Mercy Seat – Winterreise

Eine Séance zwischen Franz Schubert und Nick Cave. Tobias Schwencke (Bearbeitung), Ensemble Resonanz & Charly Hübner

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Resonanzraum Records
erschienen in: das Orchester 03/2021 , Seite 72

Was ist das Besondere an der Winterreise? In diesem Liederzyklus ver­binden sich nicht nur Schuberts überragend schöne Musik und Wilhelm Müllers tiefgründige Lyrik zu einem kongenialen Kunstwerk; die Winter­reise eröffnet uns Zuhörern auch einen Reichtum unzähliger Geschichten von Schuld und Sühne, Einsamkeit und Trauer, Liebe und Tod, die an un­ser Innerstes rühren und unsere Sichtweise auf die Welt und unser Leben verändern (können). Die umfangreiche Liste an Interpretationen und Ein­spielungen belegt, dass kaum ein Sänger sich nicht an diesem Gipfel abend­ländischer Liedkunst versucht hat. Und Hans Zenders „komponierte Inter­pretation“ der Winterreise aus dem Jahr 1993 schärfte mit dem Orchester­sound Aussage und Gehalt des Werks durch neue Klänge und Geräusche.
Nun haben das Ensemble Resonanz und der Schauspieler Charly Hüb­ner der Winterreise noch eine weitere Dimension hinzugefügt. Denn wäh­rend bei bisherigen Interpretationen und kompositorischen Annäherungen das Setting der Handlung weitestgehend unberührt blieb – ein von seiner Geliebten Verstoßener taumelt durch unwirtliche Gegend dem eigenen Tod entgegen –, wechselt diese Einspielung komplett die Perspektive: Durch die Verschränkung von Schuberts Musik mit Songs des australischen Rockpoe­ten Nick Cave und durch die Eröffnung des Zyklus mit dessen Song Mercy Seat wird das Opfer zum Täter. Denn nun wird unser wandernder Geselle zum Mörder, der in der Todeszelle auf den elektrischen Stuhl (= mercy seat) wartet und sich Lied für Lied seiner eigenen Tat und Schuld annähert.
Das auf den ersten Blick verstörende Konzept nimmt von Beginn an gefangen: Charly Hübner, unter anderem bekannt als Kommissar Bukow aus dem Rostocker Polizeiruf 110, ist kein ausgebildeter Sänger; doch mit seiner wandlungsfähigen Stimme singt, spricht, raunt und schreit er sich durch die Rolle des Todeskandidaten, dass es einem kalt den Rücken hi­nunterläuft.
Das Erstaunliche: Wilhelm Müllers Texte lassen diese Interpretation aus verändertem Blickwinkel zu, stellen sich nirgends quer. Und die Musik des romantischen Melancholikers Nick Cave passt zu Franz Schubert, als hätten sich über die Jahrhunderte hinweg zwei Seelenverwandte getroffen: „Für mich war es beim Komponieren ein bisschen so, als gäbe es eine zeit­lose Dimension in diesem Universum, und da sitzen dann Schubert und Nick Cave und schreiben diese Stücke“, so Tobias Schwencke, dessen Bear­beitung der Winterreise diese „Séance zwischen Franz Schubert und Nick Cave“ erst möglich macht. „Und Wilhelm Müller ist auch dabei. ,Der Weg­weiser‘ zum Beispiel klingt jetzt mehr wie ein Lied von Nick Cave.“
Die Streicher des Ensemble Resonanz entwickeln die Power einer Rockband und schaben, kratzen und wispern sich andererseits durch die Kompositionen, dass die Verzweiflung des Protagonisten fast körperlich spürbar wird. Zum Schluss schleichen sich die abgrundtief traurigen Klän­ge des Leiermanns in Nick Caves Mercy Seat hinein. „Mich wird das bis zum Ende meiner Tage nicht mehr loslassen“, verrät Charly Hübner. So wird es vielen ergehen.
 Rüdiger Behschnitt