Mercy Seat – Winterreise
Eine Séance zwischen Franz Schubert und Nick Cave. Tobias Schwencke (Bearbeitung), Ensemble Resonanz & Charly Hübner
Was ist das Besondere an der Winterreise? In diesem Liederzyklus verbinden sich nicht nur Schuberts überragend schöne Musik und Wilhelm Müllers tiefgründige Lyrik zu einem kongenialen Kunstwerk; die Winterreise eröffnet uns Zuhörern auch einen Reichtum unzähliger Geschichten von Schuld und Sühne, Einsamkeit und Trauer, Liebe und Tod, die an unser Innerstes rühren und unsere Sichtweise auf die Welt und unser Leben verändern (können). Die umfangreiche Liste an Interpretationen und Einspielungen belegt, dass kaum ein Sänger sich nicht an diesem Gipfel abendländischer Liedkunst versucht hat. Und Hans Zenders „komponierte Interpretation“ der Winterreise aus dem Jahr 1993 schärfte mit dem Orchestersound Aussage und Gehalt des Werks durch neue Klänge und Geräusche.
Nun haben das Ensemble Resonanz und der Schauspieler Charly Hübner der Winterreise noch eine weitere Dimension hinzugefügt. Denn während bei bisherigen Interpretationen und kompositorischen Annäherungen das Setting der Handlung weitestgehend unberührt blieb – ein von seiner Geliebten Verstoßener taumelt durch unwirtliche Gegend dem eigenen Tod entgegen –, wechselt diese Einspielung komplett die Perspektive: Durch die Verschränkung von Schuberts Musik mit Songs des australischen Rockpoeten Nick Cave und durch die Eröffnung des Zyklus mit dessen Song Mercy Seat wird das Opfer zum Täter. Denn nun wird unser wandernder Geselle zum Mörder, der in der Todeszelle auf den elektrischen Stuhl (= mercy seat) wartet und sich Lied für Lied seiner eigenen Tat und Schuld annähert.
Das auf den ersten Blick verstörende Konzept nimmt von Beginn an gefangen: Charly Hübner, unter anderem bekannt als Kommissar Bukow aus dem Rostocker Polizeiruf 110, ist kein ausgebildeter Sänger; doch mit seiner wandlungsfähigen Stimme singt, spricht, raunt und schreit er sich durch die Rolle des Todeskandidaten, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft.
Das Erstaunliche: Wilhelm Müllers Texte lassen diese Interpretation aus verändertem Blickwinkel zu, stellen sich nirgends quer. Und die Musik des romantischen Melancholikers Nick Cave passt zu Franz Schubert, als hätten sich über die Jahrhunderte hinweg zwei Seelenverwandte getroffen: „Für mich war es beim Komponieren ein bisschen so, als gäbe es eine zeitlose Dimension in diesem Universum, und da sitzen dann Schubert und Nick Cave und schreiben diese Stücke“, so Tobias Schwencke, dessen Bearbeitung der Winterreise diese „Séance zwischen Franz Schubert und Nick Cave“ erst möglich macht. „Und Wilhelm Müller ist auch dabei. ,Der Wegweiser‘ zum Beispiel klingt jetzt mehr wie ein Lied von Nick Cave.“
Die Streicher des Ensemble Resonanz entwickeln die Power einer Rockband und schaben, kratzen und wispern sich andererseits durch die Kompositionen, dass die Verzweiflung des Protagonisten fast körperlich spürbar wird. Zum Schluss schleichen sich die abgrundtief traurigen Klänge des Leiermanns in Nick Caves Mercy Seat hinein. „Mich wird das bis zum Ende meiner Tage nicht mehr loslassen“, verrät Charly Hübner. So wird es vielen ergehen.
Rüdiger Behschnitt