Sonja Stibi, Lehrstuhlinhaberin des neuen Studiengangs Musikvermittlung / © Max Köstler 2021

Uwe Mitsching

Meisterschaft in der Publikumsansprache

Die Musikhochschule München bietet einen Masterstudiengang in Musikvermittlung an

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 7-8/2022 , Seite 39

Ein Dutzend Seiten lang ist das Verzeichnis von Projekten, Veröffentlichungen und Referaten, allein daran sieht man, womit Sonja Stibi sich für den neuen Lehrstuhl an der Hochschule für Musik und Theater München qualifiziert hat. „Hörlabor für Erwachsene“, „Musik erzählt Geschichten“, „Jugendprogramm der Salzburger Festspiele“, „Tanz im Glück“, „Aktionstag Orchester für alle“, „rhythmisch-musikalische Erziehung“, „musisch-ästhetische Bewegungserziehung“, „Samba-Festival Coburg“, „Musikvermittlung im Spielraum des Digitalen“, „Lehrersprache im Musik- & Tanzunterricht“: Es lohnt sich, die Liste wenigstens zu überfliegen, denn damit hat man zugleich einen Überblick über die Vielfalt dessen, was „Musikvermittlung“ heute bedeutet und was man in diesem Masterstudium bei Sonja Stibi und ihren Kolleg:innen lernen kann.
Auf einen Nenner gebracht: Kunstvermittlung hat eine „kommunikative Funktion“, „ist eine doppelte Brücke zwischen den Ausführenden, zwischen der Musik und den Menschen, die man erreichen möchte“, sagt Stibi beim Interview an der Hochschule in München. Die ist nach Detmold die zweite Musikhochschule in Deutschland, die sich einen solchen Lehrstuhl zugelegt hat. Mit dem Ziel, „die verschiedensten Formen der Musik zielgruppenorientiert und medienkompetent zu vermitteln“. Stibi weiß aus all den Jahren zwischen Hörlabor und digitaler Musikvermittlung, welche Brücken Musikvermittlung schlagen muss: zwischen Werk und Pub­likum sowie auch zwischen den Ausführenden und dem Publikum – in beide Richtungen. Musikvermittlung sei eine Querschnittsaufgabe, sagt auch der Präsident der Hochschule, Bernd Redmann: „Vermittelnde Fähigkeiten gewinnen in allen Musikberufen wachsende Bedeutung und zählen zu den Schlüsselqualifikationen unserer Studierenden.“
Das viersemestrige Master-Studium auf Basis eines musikpädagogisch-wissenschaftlichen Abschlusses – Staatsexamen oder Bachelor – soll eine musikalische Fundierung haben: Bewerber, die von den Kommunikationswissenschaften oder vom Marketing her kommen, werden nicht zugelassen, und wenigstens Klavier spielen solle man können. Zulassungsbedingung für einen der zehn Studienplätze ist auch, ein Konzept, ein Projekt vorführen zu können.
Der in Modulen aufgebaute Studiengang hat verschiedene fachwissenschaftliche Akzentuierungen: musiktheoretisch, musikwissenschaftlich, geschichtlich. Hinzu kommen vermittlungspraktisches Klavierspiel – dazu gehört Gehörschulung (bei einem selbst und beim Publikum) – sowie Wahlfächer. Worum es Sonja Stibi geht, das ist die Weite der Aufgaben, denen sich die Studierenden später im Beruf gegenübersehen. Dabei sind ihre eigenen Spezialgebiete: Educa­tion-Modelle als „Master of Music“ speziell bei den Instrumenten Akkordeon, Zither, Hackbrett; Ensemble-Praxis sowie der Bereich „Sprechen im Konzert“ und Moderation. Dann das „Audience Engagement“, um ein Publikum einschätzen zu können („Wer ist mein Publikum?“), seine Aufmerksamkeit zu wecken und es zu einer Bindung etwa an ein Orchester oder eine Musikrichtung zu bewegen.
Neu sind die Fragen nach „Musik und Nach­haltigkeit“: Müssen Orchester bei ihren Tourneen mit dem Flugzeug reisen, wie kann man im Konzert Strom sparen, welches recycelte Material kann man einsetzen? Beispiel: das Schlagzeugkonzert mit Alteisen. Es ist erstaunlich, wie sich in kurzer Zeit neue Konzertformate herausgebildet haben: „Konzert-Design“ etwa im Wettbewerb „Zwischentöne“ von Feldkirch (Vorarlberg) oder in den Konzerten von Patricia Kopatchinskaja mit Partnerinnen wie Anna Prohaska. Dazu gehören Überlegungen zur Erfindung von Konzert-Räumen („Outreach“) in Kulturzent­ren, Krankenhäusern, Altenheimen, Kindergärten, Lehrlingsheimen, Berufsschulen für Holzbearbeitung – Yehudi Menuhin hatte schon vor Jahrzehnten an das Konzert im Gefängnis gedacht.
Neue Formate, neues Publikum, neue Konzertorte – unter diesen Schlagworten lässt sich vieles an „Musikvermittlung“ zusammenfassen und erfinden. Dabei poppen immer wieder neue Ideen auf: Wie können Ausweichquartiere für Musik zu Dauerlösungen werden (siehe Isarphilharmonie), provisorische Gebäude in verschiedenen Stadtteilen ohne Millionenaufwand installiert werden und mit einem sozial angepassten Musikangebot ihren Charme entwickeln? Wie können sie ein besonderes Publikum ansprechen, z. B. Musik und Essen für Bedürftige anbieten wie etwa beim Staatstheater Nürnberg in der Gustav-Adolf-Gedächtnis-Kirche? Wie können Freiluftkonzerte unter Corona-Bedingungen stattfinden?
Auch das Kinderkonzert ist ein Vermittlungs-Nukleus, den das Lehrstuhlangebot auffächern will: Welche Werke will man spielen, welche wie inszenieren; welche Teile kann man aus einer Symphonie oder einer Oper herauslösen; wie kann man Musik anders als mit den Ohren erfahrbar machen; wo sind einprägsame „rhythmische Aufhänger“, Motive, die in Erinnerung bleiben; wie bringt man Historisches unter, etwa Kostüme oder Bilder? Manches davon ist schon seit Langem realisiert, aber nicht wissenschaftlich aufgearbeitet, studierbar oder wie ein Modul wiederhol- und anwendbar. Wer braucht eigentlich noch ein Programmheft – und wenn ja, das wenig konzertaffine Publikum oder der Abonnent?
Nicht erst durch Corona, sondern durch die Vielzahl von Mediatheken aller Rundfunk- und Fernsehanstalten rückt die digitale Produktion in den heiß diskutierten Mittelpunkt. Darüber hinaus der Ratgeber dazu im Internet: Was an aktuellen Opernaufführungen und Konzerten soll man sich digital anschauen? Wer je darüber gejammert hat, dass er keine oder nur teure Karten für Jonas Kaufmann bekommen hat oder für Konzerte bei beschränkter Zuhörerzahl wie in Corona-Zeiten, kann „Foyer“ anklicken: Musik ist dauernd verfügbar, berücksichtigt alle Rezeptionsvorlieben von Zeit, Kleidung, Sitzqualität und im Chat auch alle Diskussionswünsche. Wichtig und nicht unproblematisch: die Vorauswahl, die hier getroffen wird.
Noch kann man über diese Vermittlungspraxis und -vielfalt als Student:in wenig wissenschaftlich Fundiertes lesen – man muss für dieses Studium in der Realität forschen, wenn es auf die tägliche Berufspraxis vorbereiten soll. Der Student, die Studentin muss sich die Formate anschauen, die verschiedenen Arten von Publikum und ihre Reaktion, die Bedürfnisse von Musikjournalist:innen, denen sie oder er später zuarbeiten soll. Dazu muss man viel hospitieren, zum Beispiel bei Orchestern, in Redaktionen „mitlaufen“, in verschiedenen Schulformen temporär unterrichten. Die Studierenden müssen, so Stibi, aus eigener Erfahrung mit verschiedenen Altersgruppen, sozialen Schichten und deren Bedürfnissen an Musik arbeiten und wissen, was in Kunst, Musik, Gesellschaft passiert. Und auch, wie und wohin sich ihr Studienfach entwickelt – gerade in einer Zeit zunehmender Nachhaltigkeitsdiskussion.
„Wir sind mit dem neuen Studienfach zeitlich genau richtig gekommen“, sagt Sonja Stibi, denkt dabei auch an das, was sie an Bewegungs- und Instrumentalpädagogik schon gelernt, erlebt und erforscht hat: etwa in einer „empirisch-qualitativen Videostudie zu multimodalen Instruk­tionsmustern in der Tanzimprovisation“ (Stibis Promotionsthema). Und wie diese Vielfalt sie auf den neuen Münchner Lehrstuhl – eine Zusage aus Wien hat sie abgelehnt – gebracht hat.
Die Frage danach, welche Berufsaussichten ein Musikvermittlungs-Master habe, beantwortet sie auch aufgrund eigener Erfahrungen: „Alle finden ihr Auskommen“, freiberuflich oder in Institutionen, manches Mal in Job-Kombinationen. Sie muss aber zugeben: „oft unterbezahlt“, und man muss hinzufügen: auf dem Schleudersitz vieler Ortswechsel. „Raus aus dem Elfenbeinturm, rein in die Gesellschaft“, hat ein Wiener Konzertmanager die Fragen der Musikvermittlung gebündelt. Wenn man nur wüsste: In welche Gesellschaft? Da fängt das Auffächern schon wieder an.

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