Nikolaus Harnoncourt
Meine Familie
Sein Taufname Johann Nicolaus Graf de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt weist auf einen europaweit (Frankreich bis Ungarn) verzweigten Clan, von dem er allerdings nicht wie ein Chronist über Meine Familie erzählt, sondern in kurzen Episoden aus überlieferten Geschichten oder eigenen Erlebnissen. Dabei porträtiert der Pionier der historischen Aufführungspraxis, bekannt als Nikolaus Harnoncourt (1929–2016), sowohl den Lebensstil der österreichischen Linie Meran seiner Mutter als auch Personen aus dem französischen Harnoncourt-Stammbaum seines Vaters.
Eingeprägt hat sich ihm vor allem der harte Erziehungs- und Verhaltenskodex, dem er sich sozusagen subversiv und erfolgreich widersetzte und entgegen den Erwartungen Musiker werden konnte. Das strenge großelterliche Regiment wird mit liebevoll-ironischer Distanz geschildert, auch skurrile Figuren wie ein Handwerker, der eine Schnapsflasche als Wasserwaage benutzte.
Abgesehen davon fanden im 20. Jahrhundert nachhaltige Veränderungen im Status und Selbstverständnis seiner Verwandtschaft statt: „Als kleiner juiristisch-technischer Beamter (Ingenieur) wurde mein Vater bürgerlicher und wir, seine Kinder, spürten überhaupt nichts mehr von der Herkunft unserer Eltern. Wohnen, Leben, Interessen, Bildung folgten den bürgerlichen Konventionen“, erinnert sich Harnoncourt. Er empfindet diese soziale Auflösung alter Strukturen aber nicht als (Prestige-)Verlust. Vielmehr stellt er nüchtern fest, dass insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg harte Fakten das von ihm sogenannte Aristo-Leben bestimmten: „Behaupten konnte sich, wer Phantasie, Talent und den nötigen Fleiß hatte, wer bereit war, auf gewohnte Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten zu verzichten und anzupacken: zu lernen und zu arbeiten.“
Diesem Ethos seines Vaters, entstanden aus Entbehrungen und Kämpfen um eine beruflich sichere Existenz, folgte Nikolaus Harnoncourt fortan. Dazu gehörte außer einem neuen Modus Vivendi auch eine dezidierte Abgrenzung zur Nazi-Politik, die innerhalb der Familie von den meisten vollzogen wurde, und schließlich sein Bekenntnis zum Pazifismus. Dem entspricht ein indirektes Plädoyer für den Respekt ziviler Werte, von Harnoncourt durch „Auszüge aus Tante Renatas und Gerhards Bericht über ihre Zeit in sowjetischer Haft“ angefügt, ein erschütterndes Dokument menschlicher Leidensfähigkeit und bewunderungswürdiger Charakterfestigkeit.
Ergänzt wird diese persönliche, manchmal überraschend selbstkritische Familiengeschichte um sechs Essays: „Der gute Geschmack“, „Lüge – Meineid“, „Lachen und Lächeln“, „Zwei Essays zum Balthasar-Neumann-Jahr“ und „Weg in die Irre“, Letzteres ein Beitrag zur Musikrezeption, die sich Nikolaus Harnoncourt als echte Auseinandersetzung (statt „destruktivem Kunstgenuss“) wünscht.
Dieses biografische Buch, koloriert im österreichischen Vokabular, bietet also zunächst Innenansichten einer riesigen aristokratischen Familie. Darüber hinaus sind zeit- und kulturhistorische Hintergründe stets präsent, sodass die Lektüre auch für Uneingeweihte von Interesse ist.
Hans-Dieter Grünefeld