Orff, Godela

Mein Vater Carl Orff und ich

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Leipzig 2008
erschienen in: das Orchester 01/2009 , Seite 65

Mit der dritten, ergänzten Auflage ihres Buchs Mein Vater und ich aus dem Jahr1992 legt Godela Orff nun ein Werk vor, das mit Sicherheit wieder einen neuen Leserkreis ansprechen wird. Das Layout ist ungemein ansprechend und großzügig gestaltet und vor allem die vielen Abbildungen, die um ungefähr 20 weitere, teilweise bisher unveröffentlichte Fotos aufgestockt wurden, sind in ihrer behutsamen Kolorierung und technischen Verbesserung von besonders eindringlicher Wirkung. Das große Schriftbild und die klaren und programmatisch gewählten Überschriften tun das ihre, dass man rasch eintaucht in den Text und sich in den – ebenfalls farbenfrohen – Erzählungen und Gedanken verliert.
Godela Orff, eine auch im hohen Alter noch temperamentvolle wie charmante Frau, durfte ich im vergangenen Jahr bei der Präsentation ihres Hörbuchs erleben, das auf der Basis dieses Buchs entstanden ist und das sie im Orff-Zentrum in München vorstellte. Aber auch wenn man die Stimmen von Tochter und Vater und dessen Musik nicht hört, vermögen die Texte einem in den Ohren zu klingen, denn Godela Orffs unkonventioneller Schreibstil wirkt „wie gesprochen“: „Besonders glücklich machte er mich, wenn er mir seine neuesten ‚Sachen‘, wie er sagte, vorspielte – das waren in dieser Zeit Carmina Burana und die Vorbereitungen von Text und Musik für den Mond. Mein Lieblingsstück aus Carmina Burana war damals ‚o, o, o, totus floreo‘, das mein Vater wie einen kessen Schlager auf dem Flügel ‚hinhaute‘. Oft fragte er mich auch ‚Gefällt dir dieser Akkord oder diese Passage so oder so besser?‘ Da musste ich genau hinhören und war stolz, dass er etwas auf meine Meinung gab. Und das tat er wirklich. Und zwar immer.“
Die einzige Tochter ihres berühmten Vaters hatte es in ihrer Kindheit und Jugend nicht leicht und sie nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie die kleineren und größeren Kümmernisse beschreibt, denen sie ausgesetzt war. Sei es schon früh das Gefühl, ein „Überbleibsel einer Tragödie“ zu sein, als sich Vater und Mutter trennten, sei es später die Erfahrung, wie ein Päckchen „Muster ohne Wert“, wie ihre Großmutter es später nannte, durch die Welt geschickt zu werden. Godela Orff litt darunter, in ein Internat in die Schweiz geschickt zu werden, anstatt bei den geliebten Großeltern aufwachsen zu dürfen. So beschränken sich auch ihre Erinnerungen an den Vater innerhalb ihrer ersten 16 Lebensjahre auf wenige, aber prägende Momente, und sie nennt diese kurzen Phasen der glücklichen Gemeinsamkeit von Vater und Tochter „leuchtende Inseln“. Godela Orff scheut sich auch nicht, über das Verhalten ihres Vaters in den Jahren des Nationalsozialismus zu schreiben. Lapidar vermerkt sie: „Mein Vater war kein Held. Er ging immer den konfliktloseren Weg, auch in dieser bösen Zeit; er hatte – wie so viele, wie fast alle – einfach Angst. Er besaß keine Begabung zum Märtyrer. Das kann ich nicht als Schuld empfinden.“
Man legt das Buch nicht mehr aus der Hand, wenn man einmal angefangen hat, und liest es in einem Zug durch. Ein Buch, das einen nachdenklich am Ende fragen lässt: Und wie war das eigentlich mit meinem eigenen Vater?
Manuela Widmer