Jürgen Theobaldy
Mein Schützling. Novelle
Der genialische Dirigent, der als zurückgezogener Eigenbrötler allein für die einzig adäquate Interpretation der Partitur lebt, ist eine beliebte Figur in Film und Belletristik. Und man könnte erwarten, dass die Novelle Mein Schützling von Jürgen Theobaldy diesem vielfach verarbeiteten Klischee nur einen weiteren belanglosen Baustein hinzufügt.
Doch weit gefehlt: Von Beginn an nimmt die Erzählung des Musikagenten Heinrich Blüm, der von seinem „Schützling“, dem Dirigenten Marus Lorbert, berichtet, durch ihre Sprachkunst gefangen. Jürgen Theobaldy versteht es, seiner Sprache wie ein Tonmeister am Mischpult beliebige Farben und emotionale Nuancen hinzuzufügen und wieder zu entfernen. Und so wird etwa die ausführliche Beschreibung des Hörerlebnisses von Marus Lorberts Dirigat der vierten Sinfonie von Beethoven in schwindelerregende Höhen geführt, bis sie hart am Rande des Abgrunds sprachlichen Kitschs balanciert, um im nächsten Moment mit wenigen Worten und einer großen Prise Humor wieder auf dem Boden zu landen:
„Die Bravorufe schienen nicht zu enden, und ich rief mit, es war mein Schützling da vorne, und ich war mal wieder dabei gewesen […] Ich werde dich umarmen, wie du Beethoven umarmt hast, der vom Himmel herabgestiegen sein musste, um bei dir und deinem Orchester zu sein und seine D-Dur-Sinfonie mit himmlisch geheilten, tiefst inneren Gehörgängen wie nie in seinem Erdenleben zu hören. Ungefähr so habe ich diesen Abend erfahren […], Beethovens Werk, dem mit Wörtern nicht beizukommen ist, ein Kunstwerk hat ja immer das so berühmte wie rätselvolle Mehr. Das lasse ich jetzt so stehen, strecke mich und schreite auf Socken zur Hausbar.“
Immer wieder wird der Prozess des Erinnerns und Schreibens selbst zum Thema: „Im Auto nach Hause kam der Germanistikstudent in mir hoch und wollte wissen, ob das eine unerhörte Begebenheit war […], aber damit wäre das, was ich seit Wochen schreibe, noch keine Novelle.“ Damit zieht Jürgen Theobaldy, der bereits seit den 1970er Jahren mit Romanen und vor allem zahlreichen Lyrikbänden von sich reden macht, eine Metaebene in seine Novelle ein, die auf raffinierte Weise für stete Reflexion des Gelesenen sorgt.
Nicht zuletzt geht es in dieser Erzählung um das Zusammenspiel (oder Gegeneinander) von Dirigent und Musiker:innen, um Macht und Einsamkeit, um die Unmöglichkeit, den anderen, von dem man alles zu wissen glaubt, vollständig zu verstehen – und bei aller Düsternis, die von Beginn an über der Novelle liegt, um die Macht des Lebens: „Das Gestern war für die früheren Meister gewesen, das Morgen wird für andere oder für den Teufel sein, nur wir, die wir heute leben, wir sind und bleiben die einzigen auf dieser Welt, die diese Welt vor uns und auch für uns geformt haben.“
Rüdiger Behschnitt