Woll, Bjørn

Mehr als schöne Stimmen

Alltag und Magie des Sängerberufs

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2014
erschienen in: das Orchester 04/2015 , Seite 68

„Es ist nicht genug, eine schöne Stimme zu haben“ – mit diesem Satz hat sich die große Maria Callas einmal gegen die (durchaus berechtigte) Feststellung zur Wehr gesetzt, es gebe schönere Stimmen als die ihre. Zugleich aber umreißt diese Bemerkung den Leitgedanken dieses Buchs, das ganz pragmatisch davon handelt, welche Voraussetzungen erfüllt, welche Regeln befolgt und welche Bedingungen beachtet werden müssen, um im Sängerberuf und seinen alltäglichen Gefährdungen bestehen zu können. Eine erfolgreiche Karriere ist das Ergebnis sorgfältiger Planung und kontrollierter Einsicht in die eigenen Möglichkeiten.
Im gegenwärtigen Opernbetrieb sind solche Maximen nicht immer leicht einzuhalten. Zu groß sind die heutigen Versuchungen durch Agenten, Operndirektoren und Medien, die schon den jungen Sangeskünstler auf das gefährliche Eis der „schnellen Mark“ locken und den vorzeitigen Verschleiß der so „geförderten“ Stimmen riskieren.
Diesen gefährlichen Tendenzen tritt das Buch mit fundierten Ermahnungen, Erkenntnissen und Remeduren entgegen, die sich auf gründliche Recherchen und die geballten Erfahrungen von namhaften Praktikern stützen. Dass dabei eine gewisse Neigung zum Konservatismus und zu verklärender Stilisierung zutage tritt, ist ebenso unleugbar wie der Nutzen, den solche Anleihen bei den Großen des Gewerbes gleichwohl bieten. So werden denn berühmte Koryphäen wie Christa Ludwig und Edda Moser, Piotr Beczala und Anja Silja, Janet Baker und Matti Salminen, aber auch jüngere Opernstars wie Christiane Karg zu Kronzeugen des Bandes. Mit ihnen allen (und vielen anderen mehr) hat der Musikjournalist Woll ausführliche Gespräche geführt, deren Ergebnisse er hier ausbreitet.
Besonders ergiebig (und bisweilen auch unterhaltsam) sind in diesem Zusammenhang die Erinnerungen und Einsichten, die der Wiener Hals-, Nasen-, Ohren-Spezialist Reinhard Kürsten beisteuert, dessen Praxis in unmittelbarer Nähe zur Staatsoper liegt – erste Anlaufstelle für panikgeschüttelte Starsänger. Er ist der hochgeschätzte Nachfolger seines bereits legendären Vaters, den Fritz Wunderlich einst als „Kehl- und Seelentröster“ pries. Das Kapitel mit Kürsten betont auf besonders schlagende Weise den engen  Zusammenhang von Seele und Stimme und sagt mehr aus über die psychologischen und physiologischen Abgründe von Sängern als alle Theorie.
Schwerpunkte des Buchs liegen auf Fragen der „richtigen“ Ausbildung, dem Zusammenhang von Stimmcharakter und Persönlichkeitsentwicklung, dem heiklen Verhältnis zu Regisseuren und Dirigenten, dem schwierigen, nicht selten schmerzlichen Umgang mit Krisen und Kritik, unterschiedlichen Konzepten und Einrichtungen der Laufbahngestaltung und der Diskrepanz von Realität und Fiktion im utopischen Bild vom „idealen Sänger“. Ein Plädoyer für das „Wunderwerk der Oper“ beschließt diesen Band, der nicht nur für Sänger interessant ist.
Rüdiger Krohn