Dagmar Zurek
Ravenna: Medea vor Festungsmauern
Ravenna Festival an historisch bedeutsamen Orten
Ein heißer Sommerabend im Garten des Nationalmuseums von Ravenna, eines ehemaligen Klosters aus dem 13. Jahrhundert. Mit großer Musizierfreude und überwältigender Intonationssicherheit interpretiert das junge koreanische Arete Quartett Kompositionen von Schumann, Haydn und Alban Berg. Dessen Lyrische Suite, deren fünfter Satz gerne als kühnstes Klangexperiment bezeichnet wurde, wird hier begleitet vom Zirpen unzähliger Grillen in den alten Pinien des lauschigen Gartens. Es passt. Einmal mehr entsteht jene typische Atmosphäre, die sich einbrennt in die Erinnerungen eines jeden Musikfreundes, der das Ravenna Festival besucht.
Ähnliche Konzertmomente entstehen auch bei den intimen, ruhigen Abenden in den legendären Basiliken der Stadt, während der Konzerte und Ballettabende im kleinen neobarocken Teatro Alighieri oder bei Festival-Veranstaltungen vor dem altem Gemäuer der Rocca Brancaleone. In dieser venezianischen Festung aus dem 15. Jahrhundert konnte man in diesem Jahr unter anderem den Medea-Film von Pier Paolo Pasolini erleben. Ihm, dessen 100. Geburtstag man 2022 begeht, war die 33. Edition des Ravenna Festivals gewidmet, das, wie das Regie-Genie, seit Beginn seines Bestehens interdisziplinär zwischen allen künstlerischen Ausdrucksformen unterwegs ist.
„Tra la carne e il cielo – zwischen Fleisch und Himmel“: So das Motto des diesjährigen Festivals. Es nimmt Bezug auf eine Bemerkung Pasolinis, die unter dem Eindruck des Hörens einer Bach’schen Violinsonate entstand. Mehr als 120 Veranstaltungen von Klassik über Chanson bis Jazz bot das diesjährige Festival an 51 Tagen.
Dabei wurden viele historisch bedeutsame Orte der Region intelligent genutzt – auch für Ausstellungen, wissenschaftliche Konferenzen und Rezitationen.
Das musikalische Angebot erstreckte sich von den leisen Tönen des vierköpfigen Orlando Consorts, dessen pure und verhaltene Interpretationen von Musik Guillaume Dufays und Josquin Deprez’ die Geburt der Renaissance thematisierten, über einen Auftritt von Jordi Savalls Ensemble Hespèrion XXI mit der Barockmusik Südamerikas bis hin zu großbesetzten Orchesterkonzerten und Ballettabenden. Hier sah man zeitgenössisches Tanztheater der Hofesh Shechter Company sowie eine abendfüllende Hommage an Micha van Hoecke, des so oft beim Ravenna Festival in Erscheinung getretenen russisch-belgischen Choreografen. Auch das Béjart Ballett Lausanne begeisterte unter anderem mit großangelegten Collagen aus Sinfonischem von Beethoven, orientalischen Rhythmen, Bühnenbild und dem jeweiligen metaphysischen Hintergrund. Bemerkenswert: das von allem Tütü-Glanz befreite, nur vom Ensemble City Percussions begleitete Stück t’M variations.
Fanden viele Konzerte mit Alter Musik innerhalb der goldglänzenden Basilika von San Vitale statt, so konnte man Lesungen aus Dantes Paradiso direkt an der Grabstätte Dante Alighieris erleben. Zu einem fulminanten Ereignis gerieten wieder die großbesetzten Sinfoniekonzerte, zu denen in den eher zweckdienlichen denn ästhetisch anregenden Palazzo Mauro de André geladen wurde. Dort wollte an jedem der Festivalabende der Applaus nicht enden, mit vielen Gesprächen der Besucher:innen vor oder nach dem Konzertereignis, ob der Dirigent nun Christoph Eschenbach oder Daniel Harding hieß, Ivan Fischer oder Riccardo Muti. Gidon Kremer und Christoph Eschenbach begeisterten ihr Publikum mit Schumanns a-Moll-Violinkonzert, einer Transkription des Cellokonzerts op. 129, und mit Tschaikowskys fünfter Sinfonie, begleitet vom Orchester Giovanile Luigi Cherubini.
Auf Initiative von Cristina Mazzavillani Muti, Ehrenpräsidentin des Ravenna Festivals, wurde das Orchester erweitert mit aus der Ukraine stammenden Künstler:innen. Etliche Musiker:innen des Opernorchesters von Kiews Nationaloper und Sänger:innen des dortigen Opernchors (Leitung: Bogdan Plish) traten auf bei Riccardo Mutis Projekt „Le Vie dell’Amicizia – Road of Friendship“ in den Wallfahrtsorten Lourdes und Loreto: mit Chorwerken von Vivaldi, Mozart und Verdi.
Doch auch in Ravenna selbst traten die Musiker:innen der ukrainischen Nationaloper noch einmal gemeinsam auf mit ihren jungen italienischen Kolleg:innen und begeisterten beim Abschlusskonzert des Festivals im ausverkauften Palazzo Mauro de André mit einem interessant zusammengestellten Programm von Bizet, Ljadov und Liszt unter der dynamischen Stabführung Riccardo Mutis.