Richter-Ibáñez, Christina

Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957)

Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Transcript, Bielefeld 2014
erschienen in: das Orchester 02/2015 , Seite 68

Künstler können kaum ihre eigenen Biografen sein. Das Gedächtnis, eine produktive Instanz, verändert immer Erinnerungen. Und Maurico Kagel hat, wie Christina Richter-Ibáñez schreibt, selbst veranlasst, dass vieles lange verborgen blieb. Ihr Buch, ein Dokument intensiver, sorgfältiger Forschungen, erschließt nun eine Fülle von neuen Quellen. Die Begrenzung auf einen Zeitabschnitt erscheint sinnvoll angesichts des vorgelegten umfangreichen Materials. Der Titel ist sorgfältig gewählt, denn es geht um den gesamten kulturellen Kontext des Komponisten während seiner argentinischen Lebensjahre, in denen er auch viele Konzerte dirigierte.
Dem Peronismus ist ein ausführliches Kapitel gewidmet. Trotz Maßregelungen von Künstlern – Anlass für viele zur Emigration – konnte sich im Unterschied zu den europäischen Diktaturen in Argentinien ein reiches kulturelles Leben entfalten. Juan Carlos Paz, einer seiner Lehrer, mit dem sich Kagel aber überwarf, vermittelte durch seine publizistische Tätigkeit ein Bild der musikalischen Entwicklung in Nordamerika. Nicht nur John Cage und Edgard Varèse etc. waren bekannt, auch Musiker wie Harry Partch, von dem die Europäer erst viel später hörten. Vor allem die Zwölftontechnik der Schönberg-Schule spielte eine große Rolle. Ihr sind Kagels frühe Kompositionen verpflichtet, die in dem vorliegenden Buch zum ersten Mal chronologisch geordnet sind. Materialreich wird die „Agrupación Nueva Música“ vorgestellt, eine der Neuen Musik gewidmete Gruppe, deren Programme neben der Schönberg-Schule eine große Offenheit zeigen. An dieser Gruppierung nahmen viele progressive Künstler anderer Kunstformen teil.
Eine Besonderheit der Entwicklung der Neuen Musik in Argentinien bestand in ihrer engen Beziehung zu den visuellen Künsten. Einflüsse der emigrierten Bauhaus-Künstler wurden darin wirksam wie auch die wachsende Bedeutung des Films. Obwohl Richter-Ibáñez viele neue Quellen zu Kagels Klang-Licht-Installation für einen Turm (Música para la torre, 1954) aufgefunden hat, glaubt sie, dass die musikalische Realisierung (Instrumentalmusik und konkrete Musik) ein Rätsel bleiben wird. Nicht nur für den Fall grenzüberschreitender Kunst gelingt es ihr, eine Beziehung zu Kagels späteren Werken aufzuzeigen.
Das Buch von Christina Richter-Ibáñez, 2013 als Dissertation an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart vorgelegt, stellt einen wichtigen Beitrag zur Kagel-Forschung dar. Aber auch einem Leser, der an der kulturellen Entwicklung Argentinien interessiert ist, könnte es eine spannende Lektüre sein.
Helga de la Motte-Haber