Johann Sebastian Bach

Matthäus-Passion

Gli Angeli Genève, Ltg. Stephan MacLeod

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Claves 50-3012/13
erschienen in: das Orchester 10/2020 , Seite 69

2020 wird in die jüngere Geschichte der Bach-Interpretation als das Jahr fast ohne Live-Aufführungen der beiden großen Passionen eingehen. Immerhin setzte der weltweit viel beachtete Live-Stream am Karfreitag aus der Leipziger Thomaskirche mit der ungewöhnlichen Version der Johannes- passion für drei Musiker ein bewegendes Zeichen. Keine Auswirkungen hatte die Pandemie bis jetzt auf neue CD-Produktionen mit Bachs Passionen, denn die wurden ja schon im vergangenen Jahr aufgenommen. Ob es im kommenden Jahr Neueinspielungen geben kann? Jedenfalls kaum Live-Mitschnitte oder in der Folge von Live-Passionsaufführungen.
Die vorliegende Neuaufnahme der Matthäuspassion mit Gli Angeli Genève unter der Leitung von Stephan MacLeod entstand im April 2019 in Genf in der Tat in der Folge mehrerer Konzerte. Sie soll, so Dirigent und Solo-Bassist des ersten Chors Stephan MacLeod in seinem Booklettext, von deren Geist und Intensität inspiriert gewesen sein.
Das ist wahrlich kein Lippenbekenntnis: Die Aufnahme aus der fran- zösischen Schweiz ist sehr bewegend im Ausdruck und leidenschaftlich im besten Sinne. Dass MacLeod und seine Sänger und Musiker hier auf viel, viel mehr Wert legen als auf klar und sauber musizierte Töne und Akkorde, ist in jedem Takt zu hören. Die Passionsgeschichte wird in ihrer ganzen Dramatik, Universalität und Aktualität spürbar.
Dabei ist das keine moderne Interpretation mit großer Besetzung. Gli Angeli Genève agieren vielmehr in einer Größe, wie sie den Angaben aus Bachs berühmten “Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music” entspricht. Der einzige Solist, der nicht bei den jeweils doppelt besetzten Chorstimmen mitsingt, ist Werner Güra als Evangelist. Der renommierte Tenor überzeugt übrigens auch in dieser Aufnahme durch die stimmliche Sicherheit und gestalterische Reife seines prägnanten Vortrags.
Benoit Arnould singt die Christusworte ganz schlicht und fein modelliert. In den Arien glänzen führende Sänger der Alte-Musik-Szene wie Dorothee Mields, Alex Potter, Thomas Hoobs oder Matthew Brook. Besonders eindringlich, dabei erlesen im Ton, singt der musikalische Leiter Stephan MacLeod die Bass-Arien in Chor 1. Für die Qualität der Musiker sprechen unter anderem die beiden exzellenten Konzertmeisterinnen Leila Schayegh und Eva Saladin.
Trotz der gleichsam solistischen Besetzung ist der Ton bei dieser Wiedergabe der Matthäuspassion nicht dünn und zerbrechlich, sondern stets voll und homogen. Die Wahl der Zeitmaße ist sehr überzeugend, überhaupt gibt es stilistisch keine Defizite. Doch das macht nicht den Rang der Interpretation aus. Dieser liegt in der Wirkung der Klangrede, die hier mehr als nur eine historische Kategorie ist. Dieser Bach betrifft den Hörer ganz unmittelbar und lässt ihn den Kern dieser Musik begreifen.
Es gibt bekanntermaßen unzählige Tonträger mit Bachs „Großer Pas- sion“, Einspielungen von Mengelberg bis MacLeod möchte man sagen. Sie sind von unterschiedlicher Qualität. Diese Neuaufnahme aus Genf gehört zu den Besten.

Karl Georg Berg