Bach, Johann Sebastian

Matthäus-Passion BWV 244

hg. von Klaus Hofmann, Stuttgarter Bach-Ausgaben, Urtextpartitur/Leinenausgabe

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Carus, Stuttgart 2012
erschienen in: das Orchester 09/2012 , Seite 74

Für Generationen von Musikern ist der Urtext der unverzichtbare Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Musik der Vergangenheit geworden. Wenn wir heute beim Vergleich mehrerer Urtextausgaben auf Diskrepanzen stoßen, liegt der Grund oft weniger in einer veränderten Quellenlage als in den gewandelten methodischen Ansätzen. Dies lässt sich besonders anschaulich an den Bach-Editionen der vergangenen 150 Jahre aufzeigen. Im 19. Jahrhundert sammelte die Bach-Gesellschaft das Material und erstellte aus der Summe der verfügbaren Quellen, die bekanntermaßen in vielen Details voneinander abweichen, eine Art „Ideal-Urtext“. Die Neue Bach-Ausgabe ordnet Autografe und Abschriften nach Chronologie und Zuverlässigkeit und erstellt den mutmaßlich letztgültigen Text. Abweichende Lesarten werden im Kritischen Bericht diskutiert, stärker abweichende – in der Regel ältere – Versionen werden separat ediert. Nicht immer ist zweifelsfrei zu entscheiden, ob ein Versehen oder eine Absicht des Komponisten vorliegt, und nicht alle Abweichungen im Vergleich zur alten Bach-Ausgabe werden in den Kritischen Berichten berücksichtigt. Es gelangten sogar offensichtliche Notenfehler unbeanstandet in die Neue Bach-Ausgabe, und Interpreten, die hier korrigierend eingreifen, sind eher die Ausnahme. In den vergangenen Jahren sind einige neue Urtext-Ausgaben erschienen, die solche Mängel aufzeigen und Lösungsansätze bieten.
Bachs Matthäus-Passion ist erhalten in einer ungewöhnlich sorgfältig ausgeführten Reinschriftpartitur aus dem Jahr 1736; das Stimmenmaterial lässt sich mindestens drei verschiedenen Aufführungen zuordnen und ist teilweise von Bach selbst geschrieben, die Kopistenstimmen wurden von ihm revidiert. Trotzdem finden sich – was bei einem so umfangreichen Werk nicht verwunderlich ist – etliche Unklarheiten und Widersprüche, besonders in der Phrasierung. Nun haben die bisher erschienenen Ausgaben in diesem Fall bereits vorzügliche Arbeit geleistet, und so stellt sich die Frage nach dem Zweck einer Neuedition. Zum weitaus überwiegenden Teil wird die Neue Bach-Ausgabe bestätigt. Im Einleitungschor beobachtet Klaus Hofmann die Artikulation und kommt zu einer folgenreichen Neubewertung: Die flüchtig gesetzten Legatobögen über Dreiachtelgruppen sollen für alle drei Noten gelten, nicht nur für die ersten beiden. Zweierbindungen gelten nur dort, wo die dritte Note mit einem Staccatopunkt versehen ist.
Tatsächlich ergibt diese Phrasierung in der Partitur ein logisches Bild, es wäre aber eine Marginalie, wenn nicht manche Interpreten die Zweierbindung mit nachfolgender kurzer Achtelnote analog auf weite Teile des gesamten Satzes übertragen und sehr prägnant artikulieren würden – die Eulenburg-Partitur bringt gleichfalls diese Lesart. Dies klingt zwar sehr „barock“, ist jedoch, wenn die Folgerungen des Herausgebers zutreffen, mit Bachs Absichten nicht vereinbar.
Die vorliegende Neuausgabe orientiert sich an den Erfordernissen der Praxis. Analogieergänzungen sind stets plausibel und nie eigenmächtig. Der Kritische Bericht diskutiert alles Notwendige in angemessener Genauigkeit. Das Notenbild ist optimal übersichtlich gestaltet.
Jürgen Hinz