Eespere, René

Mater rosae

Codex Bernensis (611), Fassung für gemischten Chor und Kammerorchester, Partitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Verlag Neue Musik, Berlin 2012, Leihmaterial
erschienen in: das Orchester 05/2014 , Seite 74

Die lebendige Musikkultur der baltischen Staaten nimmt man in Deutschland eher am Rande wahr. Der Este Arvo Pärt bildet eine Ausnahme, aber er lebt schon seit 1980 in Berlin. Sein Landsmann René Eespere (1953 geboren, seit 2002 Professor an der Estnischen Musikakademie in Tallinn) genießt als Komponist in seiner Heimat großes Ansehen. Auch er hat eine Neigung zum Religiösen und Rituellen, scheint aber weniger verkapselt in einen Personalstil als sein berühmter Kollege, offener gegenüber heterogenen Einflüssen aus Minimal Music, Klangflächenmusik und Barock. Vom hier vorliegenden Werk existiert bereits eine Fassung für Orgel.
Mater Rosae ist ein in heller, modal gefärbter E-Tonalität gehaltenes Stück für gemischten Chor und Kammerorchester, dem ein rätselhafter Text aus dem frühmittelalterlichen Codex Bernensis zugrunde liegt. Eespere selbst gibt keine Deutung des Rätsels, doch deuten symbolisch-theologische Bezüge auf Maria, die Mutter Jesu, als „Mutter der Rose“. Dass das lyrische Ich von „fünf haarigen Armen“ umfasst wird, dürfte ein botanisches Phänomen sein, das Eespere symbolisch aufgreift. Denn neben die traditionelle fünffache Streicherbesetzung treten fünf Holzbläser: zwei Flöten, eine Oboe und zwei Fagotte. Dazu kommen Vibrafon und Marimbafon sowie der Chor in traditioneller vierstimmiger Besetzung.
Das Stück beginnt „Andante con moto“ mit einem freundlich ausschwingenden, mehrfach wiederholten oder abgewandelten Flötenmotiv von wiegendem Charakter in hoher Lage. Diese Grundstimmung wird auch durch Taktwechsel von 6/8 zu 3/8, 2/4 oder 3/ kaum beeinträchtigt. Mit einzelnen Gerüsttönen wird die Flöte vom Vibrafon gestützt, dann auch durch die zweite Flöte in tiefer Lage verdoppelt. Inzwischen hat sich in den Streichern ein sanfter Cluster aufgebaut, und wenig später setzt in Fagott, Marimbafon und Kontrabass ein unregelmäßiges Pendeln zwischen a und c ein, das mit dem Unisono-Einsatz von Sopran- und Altstimme verstummt.
Mit weiteren Stimmeinsätzen und kleinen Gegenbewegungen verdichtet sich der Tonsatz ins dezent Polyfone. Erst bei Ziffer 6 der Partitur, kurz vor der Hälfte, singt der Chor vierstimmig, doch jeweils in Unisono-Kopplung von Sopran/Tenor und Alt/Bass. Wirkliche Vierstimmigkeit des Chors entfaltet sich erst bei Ziffer 12 als Höhepunkt kurz vor Schluss. Dazwischen gibt es einen kurzen kontrastierenden Mittelteil. In diesem rezitieren die Frauenstimmen leise seufzend die vier letzten Zeilen des Rätsels, während die Männer kurze melodische Phrasen einwerfen. Darüber legt das Vibrafon eine ausgreifende Fünftonfloskel, und die Flöten beschleunigen und verlangsamen geheimnisvoll verschiedene Viertonfolgen. Technisch halten sich die Anforderungen für Sänger und Instrumentalisten in Grenzen, die Herausforderung liegt eher in Phrasierung, Timing und sensiblem Zusammenspiel. Kurz vor Schluss beschwört Eespere noch einmal die Rätsel-Atmosphäre des Mittelteils – nur dass hier das Vibrafon anstelle der Menschen „spricht“. Geheimnis, so scheint es, soll Geheimnis bleiben.
Andreas Hauff