Leonard Bernstein
Mass
Vojtečh Dyk (Bariton), Wiener Singakademie, Opernschule der Wiener Staatsoper, Company of Music, ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Ltg. Dennis Russell Davies
Mindestens fünf Aufnahmen von Leonard Bernsteins “Mass” sind derzeit erhältlich, darunter eine mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter Kristjan Järvi. Jetzt zieht der Letzterem in der Position als Chefdirigent des MDR-Sinfonieorchesters folgende Dennis Russell Davies mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien nach.
Die Vorliebe österreichischer Ensembles für Bernstein ist verständ- lich, denn dessen mitteleuropäische Karriere kam in Wien mit der deutschen Übersetzung von “West Side Story” durch Marcel Prawy so richtig in Fahrt. Nach der Uraufführung 1971 zur Eröffnung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington folgten die europäische Erstaufführung (1973) und die deutschsprachige Erstaufführung (1981) von “Mass” in Wien. Mehrfach wurde das Hybridwerk mit atmosphärischen wie politisch indizierten Ursprüngen in Woodstock und Stonewall als spirituelle, aber nicht allzu inspirierte Alternative zu Hair betrachtet. Dieser Einwand zerstreut sich, wenn Interpreten den Schwebezustand von Bernsteins Partitur zwischen Ritus und (ernstem) Musical nicht als Hürde, sondern als künstlerische Herausforderung begreifen.
Es gibt derzeit wohl kaum einen anderen Dirigenten, der sich mit so viel Lust und ohne Dogmen für Neu(er)e Musik von Philip Glass bis Heinz Winbeck, von Hans Werner Henze bis Keith Jarrett einsetzt wie Dennis Russell Davies. Um den ohne melodramatisch belegte Stimme oder Seelsorger-Säuseln, aber auch ohne Hippie- und Barden-Charme auskommenden Prediger (= Zelebranten) von Vojtěch Dyk bringt er die Instrumentation Bernsteins vom grellem Neonlicht bis sanften Kerzenschein zum Leuchten. Der tschechische Sänger und Entertainer hat smarte Kraft.
Weder die beeindruckende Wiener Singakademie (Einstudierung: Heinz Ferlesch) mit der Opernschule der Wiener Staatsoper (Einstudierung: Johannes Mertl) noch die Company of Music (Einstudierung: Johannes Hiemetsberger) übertreiben den rhythmischen Drive. “Mass” wirkt hier also kaum wie ein oppositionelles Fanal. Umso besser kommt Bernsteins dramaturgisches Knowhow zur Geltung. Auf der CD vereinen sich die im Textbuch von Stephen Schwartz genau unterschiedenen musikalischen Staffelungen zwischen quadrofonischen Zuspielungen und solistischen Interventionen in sehr klaren, aber kaum erschütternden Klangstaffelungen. Bernstein als polystilistischer Klassizist?
Erst wenn der Zelebrant nach dem Druck von Leid und Aggressionen der zweifelnden Menge in den Zustand einer durch Leere regenerierende Erschöpfung fällt, kann er sich wieder für die Botschaft des Glaubens im fast kitschigen Solo einer Knabenstimme öffnen. Glaubenszweifel gehören zu jedem Leben. Egal, ob zu dem eines Predigers, eines Rocksängers oder rebellischer Passanten. Trotz dieser Erkenntnis und dieser glänzend gelungenen Aufnahme taugt Mass nur kurzzeitig als Essbremse gegen den Dauerhunger auf “Candide” und “West Side Story”.
Roland Dippel