Neuwirth, Olga
Masaot / Clocks without Hands
für Orchester, Partitur
Sie habe versucht, so Olga Neuwirth in einem Werkkommentar zu ihrem 2013/14 entstandenen Stück für großes Orchester, sich kompositorisch um den vielstimmigen Gesang ihrer zersplitterten Herkunft herum zu bewegen und dabei Kindheit und Jugend ihres Großvaters, den sie nie persönlich kennengelernt hat, klanglich in einem geformten Fluss von Erinnerungen zu imaginieren: Spur einer menschlichen Existenz, die in einer mal im venezianischen, mal im kroatisch-ungarischen Herrschaftsgebiet gelegenen Stadt am Meer begann und sich dann später im zwischen Kroatien und Ungarn gelegenen Donau-Zwischenstromland abspielte.
Diese gedankliche Rekonstruktion einer längst vergangenen Existenz in ihrem historischen wie kulturgeschichtlichen Umfeld, zugleich eine musikalische Reflexion über die Wurzeln der eigenen künstlerischen Identität, steht im Zentrum der rund 25-minütigen Komposition. Hörbar wird sie in jenen Momenten einer gleichsam in Bruchstücken erinnerten Folklore, die in regelmäßigen Abständen so etwa gleich zu Beginn nach der allmählichen Entfaltung eines Streicherclusters zum Tuttiakkord das gesamte Stück durchziehen: Immer wieder treten sie als Kristallisationspunkte des musikalischen Geschehens in solistischen Instrumenten oder einzelnen Instrumentalgruppen aus den vielschichtig einander überlagernden Orchestertexturen heraus und verweisen mit ihrer prallen Klangsinnlichkeit oft genug auf die Traditionen osteuropäischer Blaskapellen und Zigeunerorchester.
Jenseits dieser im Umgang mit Melodiefragmenten lokalisierten poetischen Reflexion über das Verschwinden von Erinnerung (Neuwirth) macht die Komponistin aber auch den Fluss der Zeit selbst als Ursprung von Verschwinden, Vergessen und Erinnerung nicht zuletzt im Sinn
des Vanitas-Gedankens wahrnehmbar. Dies tut sie, indem sie von den Schlagzeugern zu bedienende Metronome in den Verlauf integriert und die Musik an den entsprechenden Passagen strikt an deren regelmäßigen Schlägen ausrichtet. All dies ereignet sich in einem weitverzweigten musikalischen Diskurs, dessen einzelne orchestrale Schichten unterschiedliche Eigendynamik entwickeln, einander stören und beeinflussen, dann aber auch wieder zusammenfallen und somit letzten Endes einen wellenförmigen Spannungsverlauf erzeugen.
Ursprünglich als Auftrag zum 100. Todestag Gustav Mahlers vorgesehen, dann aber aus Termingründen erst später komponiert und schließlich am 6. Mai 2015 in der Kölner Philharmonie von den Wiener Philharmonikern unter Leitung von Daniel Harding uraufgeführt, erweist sich das Werk als gewichtige Bereicherung des Repertoires zeitgenössischer Orchestermusik, die in Klangintensität und Machart oft genug auf den Anlass der Komposition verweist. Zwar stellt das Stück keine geringen Anforderungen an Zusammenspiel und Koordination der Musiker, doch kann man sich eigentlich nur wünschen, es in Zukunft häufiger im Konzertsaal zu hören.
Stefan Drees