Johann Sebastian Bach
Markus-Passion
Fassung von 1744, Gutenberg-Kammerchor, Neumeyer Consort, Ltg. Felix Koch, 2 CDs
Das Werk ist ein dauerndes Rätsel. Von Johann Sebastian Bachs Markuspassion BWV 247, die er erstmals 1731 zu Karfreitag und erneut 1744 in der Leipziger Thomaskirche aufführte, ist lediglich das Textbuch (von Christian Friedrich Henrici alias Picander), aber keine Musik erhalten, wohl weil dieses Oratorium nach dem Parodieverfahren verfasst wurde, das die Notierung der Melodien erübrigen mochte. Welches die verwendeten Vorlagen waren, ist in der Bach-Forschung umstritten – dies umso mehr, als 2009 in St. Petersburg ein neuer Textdruck von 1744 auftauchte, der sich insbesondere durch den Zusatz zweier Arien unterschied und weitere Fragen aufwarf.
Die vorliegende, historisch informierte CD-Einspielung stützt sich weithin auf die Edition, die Diethard Hellmann 1964 vorlegte und Andreas Glöckner 2001 ergänzte. Das betrifft vor allem die als gesichert geltenden Übernahmen aus Bachs Trauerode BWV 198, die von Picander passgenau neu textiert wurden – etwa die Rahmenchöre, aber auch drei Arien des ersten Teils, die dieser Ode entnommen sind und hier in Bearbeitung auftauchen. Bei den vier Arien des zweiten Teils geht die Version der neuen CD-Aufnahme darüber hinaus. Für drei dieser Stücke in der Frühfassung etwa greift der Mainzer Musikwissenschaftler Karl Böhmer auf Teile aus der A‑Dur-Messe BWV 234 zurück, zumal er sich auch für die neu hinzugekommene Sopran-Arie von 1744 für diese Messe als Vorlage entscheidet.
Keine Bach-Passion enthält so viele Chor-Anteile wie die Markuspassion, die zu Recht die Bezeichnung „Choralpassion“ trägt. Einige der hier verwendeten Sätze klingen aus anderen Zusammenhängen (wie etwa dem Weihnachtsoratorium) vertraut und lassen sich aus den Choralsammlungen rekonstruieren, die Bachs Zeitgenossen notiert haben. Gewissheit kann es allerdings auch hier nicht geben. Zumindest aber gibt diese Fassung und Einspielung dem Hörer Gelegenheit zur Wiederbegegnung mit „einigen der schönsten Choralsätze, die Bach jemals geschaffen hat“, wie der Bearbeiter Böhmer seine Verlegenheit mit entwaffnender Offenheit kompensiert.
In seiner informativen Einleitung räumt er ein, dass seine Einrichtung von 2016 durchaus subjektiv sei und von „Rekonstruktion“ keine Rede sein könne. Allemal aber muten seine Lösungen plausibel an. Die Aufführung durch den ausgezeichneten Gutenberg-Kammerchor und das durchsichtig musizierende Neumeyer Consort unter dem farbenreichen, stilsicheren Dirigat von Felix Koch ist ein nachhaltiges Plädoyer für die Vielfalt und Eindringlichkeit dieser Fassung.
Besonderes Gewicht gibt diese dem Part des Evangelisten, der hier von Wolfgang Vater nur gesprochen wird, weil Böhmer auf eine musikalische Rahmung und Unterlegung (aus fremden Werken oder in Eigenschöpfung) dieser Texte als Rezitative gänzlich verzichtet.
Das Solistenquartett ist mit Jasmin Hörner (Sopran), Julien Freymuth (Altus), Georg Poplutz (Tenor) und Christian Wagner (Bass) hörenswert besetzt. Insgesamt eine verdienstvolle Einspielung, die der Markuspassion neue Aufmerksamkeit sichert.
Rüdiger Krohn