Markus Thiel
Mariss Jansons
Ein leidenschaftliches Leben für die Musik
Bereits im zarten Kindesalter wollte Mariss Jansons in die Fuß- stapfen seines Vaters treten. Arvids Jansons war damals Dirigent an der Lettischen Nationaloper in Riga, sein Sohn wuchs praktisch im Thea- ter auf. Ein Foto zeigt den Dreijährigen mit einem Holzstöckchen in der rechten Hand, den Blick ernst und konzentriert auf eine Partitur gerichtet.
In einer lesenswerten Biografie beschreibt der Musikjournalist Mar- kus Thiel Leben und Wirken eines der profiliertesten Dirigenten unserer Zeit. Nach seinem Amtsantritt als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks 2003 begleitete Thiel Jansons häufig auf Tourneen. Noch bis kurz vor Jansons Tod am 1. Dezember 2019 waren sie persönlich in Kontakt.
Dem Buchprojekt, so berichtet Thiel, habe Jansons zunächst skeptisch gegenüberstanden: Nicht die Interpreten, sondern die Komponisten verdienten es, dass über sie geschrieben werde. Bescheidenheit, absolute Hingabe an die Musik und ein unermüdlicher Arbeitseifer charakterisieren Jansons geradlinigen künstlerischen Werdegang, der an der Peripherie der großen europäischen Musikzentren begann. Gefördert von Herbert von Karajan studierte er in Wien und erhielt 1971 den zweiten Preis bei dem nach seinem Mentor benannten Dirigenten- wettbewerb in Berlin. Wie zuvor sein Vater wurde er Assistent des legendären Jewgenij Mrawinsky bei den Leningrader Philharmonikern, bevor er mitten im Kalten Krieg an die Spitze des Oslo Philharmonic Orchestra trat. Während seiner 22 Jahre als Chefdirigent verhalf er dem norwegischen Orchester zu internationaler Anerkennung. Darüber hinaus nahm er Positionen in Großbritannien und im amerikanischen Pittsburgh an und debütierte bei den Wiener Philharmonikern.
Besonderes Augenmerk richtet Thiel auf die Jahre ab 2003, in denen Jansons zeitweise in einer Doppelfunktion Chef des BR- und des Con- certgebouw-Orchesters in Amsterdam war. Auch sein hartnäckiges Engagement für einen neuen Konzertsaal in München wird eingehend beleuchtet. Die detailreichen Schilderungen sind nie reine Aufzählungen, die ermüdend wirken könnten. Thiel zieht interessante Vergleiche zu Dirigentenkollegen, außerdem kommen Wegbegleiter zu Wort.
Jansons bereitete Konzerte akribisch vor und ließ Musikern dennoch Freiräume. „Man muss führen, gleichzeitig darf man die Atmosphäre und die Energie des Orchesters nicht gefährden“, wird er zitiert. Franz Scheuerer, Geiger im BR-Orchester, erklärt, er habe aus dem Klangkörper die extrem starke Emotionalität herausgeholt, die unter seinem Vorgänger Lorin Maazel verdrängt worden sei.
In dem Buch wird schlüssig dargestellt, wie Jansons im Laufe der Jahre sein Repertoire erweiterte und einseitige Festlegungen auf russische Musik vermeiden wollte. Gleichwohl zählen neben Einspielungen der Werke von Strauss, Beethoven und Mahler auch die der Sinfonien von Tschaikowsky und Schostakowitsch zum Eindrücklichsten, was er hinterlassen hat. Die von Thiel angestellten Interpretationsvergleiche regen dazu an, viele Aufnahmen nochmals anzuhören.
Corina Kolbe