Eva Gesine Baur

Maria Callas

Die Stimme der Leidenschaft. Eine Biographie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. H. Beck, München
erschienen in: das Orchester 10/2023 , Seite 64

Der Vertrag für eine Biografie der großen Maria Callas war bereits unterschrieben, da bekam die Kulturhistorikerin und Musikwissenschaftlerin Eva Gesine Baur plötzlich Bedenken. Denn was gibt es über Callas noch Neues zu sagen? „Es schien keine Lücke erkennbar, die noch zu schließen wäre, abgesehen von jenen, die allein Spezialisten kennen.“ Dann jedoch kristallisierte sich eine interessante Frage heraus: „Kann es sein, dass Triumph und Tragik der Maria Callas denselben Ursprung haben – den unlösbaren Konflikt in ihr?“ Diese Frage ermöglichte es Baur, sich der Sängerin anzunähern. Herausgekommen ist eine Biografie, in der die oft thematisierte Dualität zwischen „Maria“ und „Callas“, der Frau und der Künstlerin, auf etwas andere Weise beleuchtet wird.
Vieles im Leben von Maria Callas ist bekannt: Das komplizierte Verhältnis zu ihrer ehrgeizigen Mutter, ihr gnadenloser Perfektionismus, ihre umjubelten Auftritte und die plötzlichen Absagen, die ihr die Kritiker:innen nie verziehen haben, ihre Auseinandersetzungen etwa mit dem Intendanten der Mailänder Scala, Antonio Ghiringhelli, der „Zickenkrieg“ mit ihrer Konkurrentin Renata Tebaldi, ihr Verhältnis mit Aristoteles Onassis, der sie wegen Jackie Kennedy verließ, später ihre stimmlichen Probleme und die verzweifelten Versuche, eine neue Karriere zu starten, sei es im Film oder mit Giuseppe Di Stefano auf der Bühne. Von all dem erzählt auch Eva Gesine Baur, aber sie konzentriert sich auf die Sängerin, weniger auf jene Frau, die die Seiten der Klatschpresse füllte. Der geheimnisvollen Diät von Maria Callas etwa widmet Baur nur ein paar Sätze, die Frage, ob sie mit Onassis einen Sohn hatte, behandelt sie eher unwillig in einem kurzen Kapitel. Ihr geht es um etwas anderes: um eine Künstlerin, die in sich unbewusst alle Elemente der griechischen Tragödie vereinte; um eine Sängerin namens „Callas“, der die ebenso egozentrische wie liebeshungrige Frau namens „Maria“ immer wieder ins Handwerk pfuschte: „Maria ohne Callas hätte keiner aushalten wollen.“
So entsteht das fesselnde Porträt einer zerrissenen Persönlichkeit, die immer wieder an sich selbst zu scheitern droht, ein Porträt, das das große Callas-Puzzle neu zusammensetzt. Es zeigt eine Frau, die ganz für die Musik existierte und in anderen Bereichen des Lebens mitunter erschreckend naiv agierte, die die großen politischen und gesellschaftlichen Strömungen ihrer Zeit konsequent ignorierte, aber auf der Bühne jede menschliche Regung zu erspüren und zu verkörpern vermochte. „Maria fühlte sich nur als Frau, wenn sie begehrt wurde“, schreibt Eva Gesine Baur, „Callas nur als Künstlerin, wenn sie Publikum hatte.“ Mit ihrer Biografie hat sie das Phänomen Maria Callas auf neue Weise durchleuchtet und damit der umfangreichen Callas-Literatur einen ebenso unterhaltsamen wie wertvollen Baustein hinzugefügt.
Irene Binal