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Interview: Gerald Mertens

Marathonlauf Richtung Diversität

André Uelner arbeitet bei der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz an einer Zukunftsaufgabe

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 20

Rund 22 Millionen Menschen in Deutschland haben – gemäß der Definition des Statistischen Bundesamtes – einen Migrationshintergrund, wurden also nicht als deutsche Staatsangehörige geboren oder haben mindestens ein Elternteil, auf den das zutrifft. Was bedeutet dies für die Orchester? Erreichen sie das ­immer vielfältigere Publikum? Wie können sie selbst ­diverser werden? André Uelner, seit 2019 Agent für Diversitätsentwicklung bei der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, berichtet im Gespräch mit Gerald Mertens von einer großen Herausforderung.

> Herr Uelner, Sie sind als Agent für Diversitätsentwicklung seit Juni 2019 bei der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz tätig. Ihre Stelle gab es vorher nicht, Sie haben quasi bei null angefangen. Wie lautet konkret Ihr Auftrag und was waren Ihre ersten Schritte?
André Uelner: Mein Auftrag im Rahmen meiner Stabsstelle lautet, das Personal hinsichtlich der diversitätsorientierten Entwicklung in den Bereichen Personal, Programm, Publikum und Partner zu unterstützen. Einer meiner ersten Schritte war, mir die Bevölkerungsstruktur und deren demografische Entwicklung in Ludwigshafen, Rheinland-Pfalz und Deutschland anzusehen und mit der Personalstruktur des Orchesters abzugleichen. Dabei fiel sofort ins Auge, dass bestimmte Teile der Bevölkerung weder bei Personal oder Pub­likum noch bei den Partnern repräsentiert werden. Auf der anderen Seite konnten wir dank der Arbeit meiner Kollegin Catharina Waschke, der neuen Leiterin des Marketingbereichs, mit dem Mythos aufräumen, dass Menschen mit Migrationshintergrund quasi nicht im Publikum präsent sind. Das sind sie durchaus, man kann es ihnen nur nicht ansehen, weil sie wie fast alle anderen Menschen im Publikum weiß sind.

> Wie haben die Orchestermitglieder, aber auch die übrigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Ihre Aktivitäten reagiert?
Orchester werden in der öffentlichen Wahrnehmung überwiegend als homogene Gebilde gesehen. Dies hängt maßgeblich mit der einheitlichen Kleidung, einem einheitlich habituellen Auftreten sowie normierten Verhaltensritualen im Konzert zusammen. Aus der Innenansicht heraus kann ich unser Orchester aber als durchaus heterogen beschreiben. Und so ist es für mich auch verständlich, dass die Orchestermitglieder unterschiedlich auf meine Aktivitäten reagiert haben und reagieren. Die Bandbreite der Reaktionen reicht von „Endlich tut sich mal was. Das war auch höchste Zeit!“ bis zu „Das ist total unnötig!“ Für mich ist das so auch absolut in Ordnung. Viel wichtiger ist mir, dass man im wertschätzenden Dialog bleibt und dass Diversität als Chance der Weiterentwicklung für die Zukunft und nicht als Quasi-Abschaffungsprogramm oder als Banalisierung europäischer klassischer Musiktraditionen sowie Wertesysteme verstanden wird.

> Wenn Sie auf die konstante Veränderung der Diversität innerhalb der Bevölkerung in Ludwigshafen oder anderen Großstädten schauen: Befürchten Sie so etwas wie einen „Strömungsabriss“ für die klassische Musikkultur?
Zunächst einmal ist es wichtig hervorzuheben, dass die Bevölkerungsstrukturen in urbanen Räumen sich nicht überall in Deutschland gleichen. In Ludwigshafen haben wir aktuell einen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund von 50 Prozent, in Mannheim auf der anderen Rheinseite ist dieser Anteil nur unwesentlich geringer. Im urbanen Raum Ludwigshafen/Mannheim haben allein zehn Prozent der Bevölkerung türkische Wurzeln, was auch programmatisch Ansatzpunkte bieten könnte.
Übergreifend auf urbane und zunehmend auch ländliche Räume in Deutschland kann man sagen, dass die demografischen Daten ganz klar auf eine sich weiter diversifizierende Gesellschaft hinweisen: Bereits 40 Prozent der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Und das sind nur die Kinder, die durch die derzeitigen Erhebungen über die Definition Migrationshintergrund überhaupt erfasst werden. Das Statistische Bundesamt erklärte 2020, dass der derzeitige Migrationssaldo das Geburtendefizit in Deutschland nicht ausgleicht. Die Agentur für Arbeit wies im September 2021 darauf hin, dass ein aktueller Fachkräftemangel und der damit gefährdete Wohlstand nur durch einen jährlichen (!) Zuzug von 400000 Fachkräften auszugleichen sind. Das wären in zehn Jahren fünf Prozent der Bevölkerung Deutschlands.

> Was bedeutet das konkret für die Orchester?
Ein nicht unerheblicher Anteil des Orchesternachwuchses stammt aus Familien von Orchestermitgliedern. Zugleich gibt es weitaus mehr Absolventinnen und Absolventen von Musikhochschulen als offene Stellen in Orchestern; die Szene wiegt sich insofern in Sicherheit, als das suggeriert, dass es keinen Nachwuchsmangel gibt. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Herbst 2020 belegt jedoch, dass allein im Grundschulbereich 23000 Musiklehrkräfte fehlen. Laut Bundesverband Musikunterricht sind in diesem Jahr in Rheinland-Pfalz gerade einmal an die 30 Musik-Leistungskurse zustande gekommen. Das spricht eine andere Sprache. In der Publikumsforschung gibt es Strömungen, die die Frage stellen, ob die aktuelle Generation des Abonnement-Publikums vielleicht die letzte ihrer Art ist. Ab den 1950er bis 1960er Jahren wurden viele Kinder und Jugendliche mit neuen Musikformen sozialisiert und tendieren jetzt als kommende Publikumsgeneration vielleicht eher zu populären Musikstilen. Und nicht zuletzt müssen sich Orchester mit einem zunehmenden digitalen Konkurrenzangebot auseinandersetzen.

> Der Schlüssel liegt also in der musikalischen Bildung?
Die entscheidende Frage ist, welche in Deutschland geborenen Kinder heute ein Instrument in die Hand nehmen und sich dann in 15 bis 20 Jahren auf eine freie Orchesterstelle bewerben – und welche nicht. Abgesehen von einer programmatischen Öffnung müssten Orchester meiner Ansicht nach heute bereits beginnen, aktiv ein diversitätsorientiertes Talentscouting zu betreiben, um Repräsentanz herzustellen. Eine professionelle Musikausbildung ist teuer, muss im frühen Kindesalter begonnen werden und dauert bis zur spieltechnischen und künstlerischen Reife je nach Instrument bis zu 15 oder sogar 20 Jahre. Zudem basiert die Entscheidung für eine künstlerische Karriere auf einem hohen ideellen Wert. Mit diesem Beruf lässt sich in vielen Fällen kein gutes Geld verdienen.

> Was bedeutet das konkret?
Die Schere geht weiter auf, denn die Bevölkerung wird sich in den kommenden 20 Jahren bereits verändert haben und speziell in urbanen Räumen ist eine zunehmend hybridere Alltagskultur zu beobachten. Städte wie Frankfurt am Main, Stuttgart, Nürnberg, Düsseldorf werden sich zu Minderheitengesellschaften entwickeln, in denen die weiße, autochthone Bevölkerung eine von mehreren Minderheiten darstellen wird.
Es ist auch davon auszugehen, dass auf kulturpolitischer Ebene die Gremien, die über die Vergabe von Kulturförderung entscheiden, ebenfalls diverser besetzt sein werden. Wenn die Gremienmitglieder zunehmend keinen Bezug mehr zur klassischen Musik haben und irgendwann auch keine Rücksicht mehr auf eine bestimmte Wählerklientel nehmen müssen, um eigene Mehrheiten zu sichern, stellt sich mir die Frage: Für welche Förderung werden sie sich dann ganz pragmatisch entscheiden?

> Wie würden Sie selbst die Potenziale von Diversitätsentwicklung innerhalb und außerhalb der Deutschen Staatsphilharmonie beschreiben?
Die nachfolgende Generation von Orchestermitgliedern ist mit dem Thema Diversität bereits weitaus vertrauter. Viele Studierende sind in einem diverseren schulischen Umfeld aufgewachsen und haben ein viel selbstverständlicheres Verständnis von Vielfalt. Das hat der Diversitäts-Workshop mit unseren eigenen Akademiemitgliedern eindrücklich aufgezeigt: Die Rückmeldung hier war, dass Mitglieder unserer Orchesterakademie die Themen alle schon kannten und der Meinung waren, dass dieser Workshop eigentlich viel eher für die älteren Orchestermitglieder relevant wäre.

> Was folgt für Sie daraus?
Hier scheint ein Potenzial für Orchester zu entstehen, das durchaus beachtenswert ist. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Veränderung kommt hier „von unten“ eine Erfahrung in die Orchester, von der auch die Älteren profitieren können. Vielleicht ist die zum Teil gängige Praxis, den Orchesternachwuchs in lang überlieferte Gewohnheiten und Traditionen des jeweiligen Orchesters einzuführen, in einigen Aspekten selbstkritisch zu reflektieren. Auch der Konformitätsdruck, der durch Erfüllen von vorgegebenen Normen – wie dem Erlernen von Orchesterstellen für Probespiele sowie ein zu bestehendes Probejahr – entsteht, lässt wenig Raum für Diversität. Vieles wird dann eher in den privaten Bereich ausgelagert.

> Wie gehen Sie damit in der Praxis um?
Ein Hinweis, den ich auf programmatischer Ebene immer wieder gebe, ist, den Fächer der Programmformate zu weiten, um darüber neue Publikumsarten zu erreichen. Kinderkonzerte beispielsweise sind mittlerweile integraler Bestandteil vieler Orchester. Hier gibt es speziell entwickelte Programmangebote für ein spezielles Publikum – ohne den Hintergedanken, es eigentlich nur anzufüttern, um es dann direkt dahin zu bekommen, wo man es eigentlich haben möchte, nämlich im abendlichen Abo-Konzert. Dieses Prinzip kann man auch für andere anwenden, z. B. in einem eigenen transkulturellen Musikensemble zusammen mit lokalen, außereuropäischen Musikerinnen und Musikern für ein interkulturell interessiertes Publikum. Wir entwickeln das zurzeit mit dem Anspruch, die Musik dabei eben gerade nicht durch eine europäisch geprägte, kompositorische Brille zu betrachten und so eine koloniale Haltung fortzuschreiben.

> Wenn Sie auf die erste Zeit Ihrer Tätigkeit zurückschauen: Was hat gut funktioniert und entwickelt sich weiter, wo gab es Probleme oder gar ein Scheitern? Was waren wesentliche Lernprozesse?
Auf mich wirkte anfänglich ein enormer Zeitdruck. Wenn man bedenkt, dass Change-Prozesse in der Regel etwa acht Jahre dauern, hatte ich bei nur vier Jahren Programmlaufzeit das unbedingte Bedürfnis, schnell Ergebnisse zu erzielen. Für mich persönlich war der wichtigste Lernprozess, dass es nicht um Kategorien wie „divers ist richtig“ und „nicht divers ist falsch“ geht. Das kann im Extremfall auch zu umgekehrtem Rassismus führen. Ein Schwarz-weiß-Denken lässt die ganzen Graustufen dazwischen außer Acht und damit kommen Prozesse gar nicht erst in Gang. Auch ein theorielastiger Diskurs ist auf der Handlungsebene oft nicht zielführend, weil er zuweilen viel zu abgehoben geführt wird. Diversitätsentwicklung ist ein Marathonlauf und bedarf vieler kleiner Schritte. Das lässt sich gut am Beispiel unserer Arbeitsgruppe Diversität aufzeigen. Hier sind alle wesentlichen Abteilungen vertreten: Intendanz, Verwaltungsleitung, Orchestervorstand, Personalrat, Gleichstellungsbeauftragte, Dramaturgie, Marketing, Öffentlichkeitsarbeit, Musikvermittlung sowie unsere Trainees im Orchestermanagement. Im ersten Jahr habe ich die Gruppe mit theoretischen Grundlagen überfrachtet, weil mir wichtig war, dass alle auf demselben theoretischen Wissensstand starten. Und das Thema ist komplex. Am Ende der Meetings habe ich oft in viele leere Gesichter geschaut. Mittlerweile arbeiten wir viel produktiver an kleinen, zielgerichteten Vorgaben.

> Wie sollte ein Orchester oder ein Konzerthaus aufgestellt sein, das alle Chancen und Potenziale diverser Teams nutzt?
Da gibt es für mich zwei wesentliche heiße Eisen: Fehlerkultur und Ambiguitätstoleranz, auch im Sinne eines (künstlerischen) Diskurses. Grundvoraussetzung dafür ist meines Erachtens eine Hausleitung, deren Führungsstil dies auch top down fördert sowie im zweiten Schritt Bottom-up-Prozesse ermöglicht.
Es ist nicht damit getan, sich personell und programmatisch diverser aufzustellen oder gar People of Colour auf seiner Website abzubilden. Damit andere Menschen als bisher ins Konzert kommen, müssen „wir“ uns zuerst kritisch mit uns selbst und unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen und dies auch transparent nach außen kommunizieren. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der europäischen Kolonialgeschichte und der globalen Vormachtstellung klassischer Musik? Ist klassische Musik wirklich die am höchsten entwickelte Form von Musik? Was ist gute Musik und wer entscheidet das überhaupt? Was bedeutet „Critical Whiteness“? Was bedeutet „People of Colour“? Warum gibt es für diese Termini bislang kaum deutsche Begriffe? Für wen machen wir eigentlich unsere Musik?
Diversität ist kein einfach zu installierendes Plug-in, sondern geht an die Grundeinstellungen des Betriebssystems. Sie braucht eine selbstkritische, aufrichtige und fundamentale Auseinandersetzung. Die entsprechenden Fragen tauchen dann von ganz alleine auf. Wie konsequent Orchester diesen Prozess vollziehen, wird von bislang nicht erreichten Zielgruppen sehr genau registriert.
Es ist wichtig, Diversität nicht als einen zu erreichenden Endzustand zu verstehen, sondern eher als einen fortlaufenden Prozess. Ein diverses Team ist im Übrigen auch wirklich erst dann divers, wenn nicht automatisch über Zuschreibungen davon ausgegangen wird, dass Individuen, die bestimmte persönliche Eigenschaften mitbringen, auch Expertinnen oder Experten für diese Eigenschaften sind oder dies überhaupt sein wollen – erst dann kann es als divers bezeichnet werden, wenn die Individuen grundlegend als Menschen betrachtet werden. Das heißt zum Beispiel, dass nicht ein schwarzer Musikvermittler mit dem Ziel eingestellt wird, diversitätsorientierte Musikvermittlungsprojekte durchzuführen, weil er die Zielgruppen ja so gut erreicht.

> Ihre aus dem Programm 360° der Bundeskulturstiftung finanzierte Stelle ist auf vier Jahre befristet. Wird es in Zukunft mehr und vor allem feste Stellen für Diversitätsagenten bei Orchestern, Theatern und Konzerthäusern geben müssen?
Ich glaube ja. Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre in 360° zeigen ein grundlegendes strukturelles Problem: Die meisten Kulturinstitutionen arbeiten zwar einerseits hocheffizient, aber eben oftmals auch in einem permanenten Überforderungsmodus. Jede Form von Change muss sozusagen in eigentlich nicht existenten Räumen stattfinden. Selbst wir Agentinnen und Agenten in 360° müssen immer wieder aufpassen, dass wir von diesem Sog nicht vereinnahmt werden. Es braucht eine an die Hausleitung angedockte, unabhängige Stabsstelle, idealerweise mit eigenem Budget, die sich beratend aus diversitätsorientierter Sicht in die operativen Abläufe einbringt, damit das Thema nachhaltig implementiert werden kann. Nach dem derzeitigen Modus Operandi können das die „normalen“ Kolleginnen und Kollegen nicht leisten. Dies zu ermöglichen, ist Aufgabe der Kulturpolitik.

 

Im November wurde die qualitative Studie „0,63 % – Wie divers sind Orchester?“ von André Uelner veröffentlicht. Die Ergebnisse sind einzusehen unter:
www.staatsphilharmonie.de/de/wie-divers-sind-orchester

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2022.