Palmeri, Martin

Magnificat

für Soli (SMez), gemischten Chor (SATB) und Tangoorchester, Dirigierpartitur / Klavierauszug

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2015
erschienen in: das Orchester 01/2016 , Seite 73

Spätestens seit dem großen Erfolg der Misa criolla scheint die europäische Exklusivität der Vertonung des Messetextes gebrochen zu sein. Die Aneignung christlicher Traditionen mittels der spezifischen Ausprägung regionaler Kulturen bietet die Chance eines direkteren, unmittelbareren Zugangs. Der argentinische Komponist und Chordirigent Martín Palmeri hat sich der Verbindung von Tango und Chormusik verschrieben, seine Misa de Buenos Aires wird international häufig aufgeführt. Er steht in der Tradition des Tango nuevo, an Astor Piazzolla als dessen überragendem Protagonisten lässt sich dabei nicht vorbeikommen.
Obwohl harmonische, rhythmische und satztechnische Anknüpfungspunkte an Piazzolla unverkennbar sind, bleibt Palmeri nicht auf der Ebene bloßen Kopierens stehen. Die Besonderheit, zugleich Attraktivität seines Ansatzes liegt in dem Widerspruch, eine chorische Musik in einem Stil zu schreiben, der einzig eine individuell-persönliche Gesangsweise kennt. Zudem stellen Tango-Texte in ihrer schonungslosen Offenheit persönlicher Befindlichkeiten einen großen Gegensatz zu kanonischen Texten der Liturgie dar.
Palmeri verteilt den lateinischen Magnificat-Text auf elf Sätze einschließlich des Gloria Patri als Finale. Dem Chor kommen die meisten Aufgaben zu, er ist nur in drei Sätzen nicht beteiligt; die beiden Solistinnen werden neben Einzelsätzen in Einleitungen und Einschüben eingesetzt. Das Orchester ist auf Bandoneon, Klavier und Streicher beschränkt; mit dieser Besetzung erweist der Komponist dem Orquesta típica des älteren Tangos Referenz. Nicht nur der Klang des Bandoneons, das bereits nach wenigen Takten eine erste Kadenz erhält, sorgt für Tango-Typisches, sondern auch die Vorliebe für Moll, rhythmische Begleitformen wie diejenigen aus Habanera und Milonga und harte Akzentuierungen.
Der lange erste Satz, eine Chorfuge in h-Moll, basiert auf einem melismatischen Thema mit einem Tritonus-Sprung, das trotz seiner Sprödigkeit kantabel ist. Der dritte Satz („Quia respexit“) könnte auch als Einzelsatz populär werden; einem strophisch aufgebauten Duo mit jazziger Harmonik folgt ein vorwärtstreibender Chorsatz („omnes generationes“), der sich un­mittelbar mitteilt. Liedhaft ist die Nr. 8 gestaltet („esurientes“), formal als Rondo angelegt. „Sicut locutus est“ erweckt Assoziationen an Bach, im Schlusssatz kommen verschiedene Satztypen zusammen.
Obwohl aus dem Tanz kommend, ist der neuere Tango eine Darbietungsmusik, die in Konzertsälen und Theatern weltweit erklingt. Dass Palmeri jedoch auch Kirchen als Aufführungsort für Tango ausmacht, ist neu. Seine Komposition gewährt jederzeit eine dem Gegenstand angemessene Ernsthaftigkeit. Er zeigt größtes Geschick im Schreiben für Chor, effektvoll und anspruchsvoll, dabei aber nicht zu schwierig in der Ausführung.
Palmeris Magnificat ist nicht unmodern, ist rhythmisch und harmonisch kraftvoll, es kann sein Publikum gewinnen, dürfte auch für Ausführende attraktiv sein. Das Notenbild ist sehr praktikabel und gut lesbar, ein Inhaltsverzeichnis hätte die Übersicht über dieses recht umfangreiche Werk erleichtern können.
Christian Kuntze-Krakau