Matthias Corvin
Märchenerzähler und Visionär
Der Komponist Engelbert Humperdinck
Sein schriftstellerisches Credo sieht man hier durchaus erfüllt: „Für den Neuling nicht zu kompliziert, für den Klassik-Liebhaber nie zu langweilig.“ Gespickt mit abwechslungsreichen Anekdoten, Details und Informationen ist Matthias Corvins Biografie über Humperdinck in der Tat. Inwiefern sie „eine Neubewertung des Komponisten“ bietet, ist nicht unbedingt erkennbar.
Das Buch ist ansprechend aufgemacht durch zeitgenössische Zeichnungen, Porträts und Aufführungsplakate. Es enthält auf der Basis eines beachtlichen Quellenstudiums viel Beschreibendes, über hundert Seiten Zeitzeugnisse und -tafeln, Dokumente, Diskografie, Bibliografie, Werkverzeichnis. Corvin verknüpft (teilweise zu ausführliche) Werkbeschreibungen mit Lebensstationen des Komponisten und erzählt vom historischen Hintergrund. Die Lieder als „Schlüssel zum Werk“ ans Ende dieser Biografie zu stellen, birgt einen gewissen Reiz.
Ein in manchen Aspekten gelungener Beitrag zu diesem vielschichtigen Komponisten liegt uns hier vor. Interessant u.a.: die damalige Bekanntheit der Humoreske, Humperdincks Abneigung gegen Stierkampf und Begeisterung für Kutschfahrten, die Bedeutung seiner Chorballaden, beglückende Begegnungen, Sprachbarrieren und der technische Aufwand für die Londoner Uraufführung von Mirakel.
Es gibt einige sprachliche Schwächen („Gedanken kreisen über“) und Stilbrüche: „Immer wieder denkt Humperdinck an seine Freundin, die ihn bis in die Träume begleitet.“ Oder: „Zu jener Zeit ahnt er noch nicht, dass aus diesem musikalischen Keim dereinst ein Weltruhm erwachsen wird.“ Konkrete, aber doch recht langweilige Kapitelüberschriften und die Vielzahl von Zitaten macht mitunter etwas lesemüde.
Wie schön eigentlich: Märchenerzähler und Visionär. Ein vielversprechender Titel, der nicht ganz hält, was er verspricht. Ein guter Satz, der an den Anfang gehörte, findet sich zu weit unten auf der ersten Seite: „Das überlieferte Bild des gemütlichen Märchenonkels trügt.“ Dies ist ein Beispiel von vielen, wie der Verfasser seine eigentlich bedeutsame Aussage selbst ungünstig verschleiert und diverse spannende Momente ungenutzt verstreichen lässt. Aus dem Spektrum von Märchen bis Vision könnte man mehr machen. Diesbezüglich bleibt es bei der ersten Kapitelüberschrift „Mehr als ein Märchenonkel“.
Der Begriff des Visionärs wird leider nicht mehr wirklich aufgegriffen, allenfalls noch bei der „epochalen Leistung des gebundenen Melodrams“. Der „Märchendichter“ Humperdinck und sein „verschlossener Charakter“ werden kurz erwähnt – dabei wären doch gerade Hänsel und Gretel, die Königskinder oder auch Der blaue Vogel ideale Steilvorlagen für Märchen und Visionen. Und dann „bemerkt Humperdinck sicher, dass der künstlerische Aufbruch jener Tage ihn überholt“ – die Vision, die Zukunft bleibt anderen überlassen.
Carola Keßler