John Casken
Madonna of Silence
A drama for trombone and orchestra, Studienpartitur
John Casken unterstreicht in Interviews und in Äußerungen, dass Michelangelos Kreidezeichnung Madonna del Silenzio die Klischees auf den Kopf stelle: Die Madonna, eine Frau jenseits der ersten Jugendblüte, trägt ein elegantes Kleid. In der einen Hand hält sie ein offenes Buch, in dem sie gerade noch zu lesen schien. Sie blickt ernst zur Seite. Der kindliche, aber auffallend muskulöse Jesus liegt in der leblosen Haltung, in der viele Künstler ihn sonst nach der Abnahme vom Kreuz gemalt haben, auf dem Schoß der Mutter. Der großväterlich wirkende Josef lehnt nachdenklich rechts im Hintergrund, schaut auf Jesus herab. Eine unbekannte Person links im Hintergrund legt den Finger an die Lippen, um Ruhe für das scheinbar schlafende Kind bittend.
Diese Zeichnung inspirierte Maler zu Gemälden, John Casken jedoch zur Komposition des am 28. Februar 2019 in Manchester mit viel Beifall uraufgeführten Dramas für Posaune und Orchester Madonna of Silence. Die Uraufführung wurde von BBC Radio 3 mitgeschnitten und als Broadcast bereitgestellt.
So weit, so erhellend – nur, warum hat Casken ausgerechnet die vitale Posaune als Stimme der Madonna gewählt? Welche Aufgaben werden dem Orchester zugewiesen, soll es die übrigen drei Personen der Zeichnung in Musik umsetzen oder begleitet es überwiegend den virtuosen Posaunenpart? Reichen die Beziehungen der vier Personen zueinander, wie Casken es im Interview beschreibt, zu dramatischen musikalischen Interaktionen aus, zumal die Figuren keinerlei Aktion zeigen, nicht reden und in Gedanken versunken sind? Der Reiz der Zeichnung liegt vielmehr in der sehr realistisch anmutenden Szene, in die viele Stimmungen und Vorahnung hinein interpretiert werden können.
Casken hat sein gleichnamiges Drama für die Soloposaunistin des Hallé Orchesters Manchester, Katy Jones, geschrieben. In Interviews und Probenauschnitten, die Jones an der Posaune und Casken am Klavier zeigen, erschließen sich Eindrücke: temperamentvolle Ausbrüche und einige neue Spieltechniken in der Posaune, aber auch Kantilenen und zarte Töne. Blättert man die Partitur des ungefähr 24 Minuten dauernden Werks durch, fallen sofort Passagen der Spannung und Entspannung auf.
„The Madonna in Contemplation“ steht am Anfang des einsätzigen Werks: Klarinette, Harfe und Viola streuen ein paar zarte Klänge, die Posaune beginnt eine Kantilene in hoher Lage. Einzelne Holzbläser, später auch die Streicher, setzen eher sparsame Soli dagegen. „Joseph the Witness“, „The Distant Figure“, „The Wounded Child“ – nacheinander erscheinen alle Figuren der Zeichnung als Überschriften in der Partitur. Die Posaune strahlt über allem, hat einige virtuose Stellen zu meistern, darf ihre gesamte große Dynamikpalette benutzen und glänzt, nun streckenweise vom kompletten Orchester mit vollem Klang begleitet, über alle Kollegen hinweg.
Dramatisch? Ja, sicher, dazu effektvoll, gemäßigt modern und technisch herausfordernd für den Posaunisten. Die Personen der Zeichnung treten nicht unbedingt vor das Auge, es überwiegt der Genuss einer schönen, virtuosen Musik für Posaune und Orchester.
Heike Eickhoff


