Eric-Emmanuel Schmitt

Madame Pylinska und das Geheimnis von Chopin

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: C. Bertelsmann
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 63

Er soll Blumen pflücken, ohne den Tau fallen zu lassen – mit Gänseblümchen gelingt ihm das –, und für die Stille, auf die er hören soll, muss er in den Keller, denn er lebt mitten in Paris. Solche Übungen werden ihn auf das Klavierspielen vorbereiten, was ihn mindestens so verblüfft wie den Leser dieses Romans. Aber es ist ja auch eine besondere Lehrerin, stets respektvoll Madame Pylinska genannt. Sie wird ihn auch von der Hassliebe heilen, die den jungen Mann am Beginn des schmalen, starken Buches begleitet.
Ein Eindringling steht da im elterlichen Wohnzimmer, ein fetter Störenfried, dessen Elfenbeinzähne vergilbt sind. Dichter kann man Abneigung kaum beschreiben wie die gegen das „Buffet aus Nussholz“, auf dem die Schwester Für Elise „des Folterers Beethoven“ klimpert. Es ist natürlich ein Klavier, das Éric-Emmanuel Schmitt da hingebungsvoll beschreibt, Schiedmayer geheißen. Für die Kluft zwischen dem „Parasit“ und dem Jungen scheint es keine Brücke zu geben, doch dann kommt Tante Aimée, „seidig, gepudert“, zu Besuch und zähmt das Ungeheuer mit einem Arpeggio. Und nun beginnt für Schmitt (er schreibt hier natürlich auch über sich) und seine Leser ein „leuchtendes Anderswo“.
Mit Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran berühmt geworden, entfaltet er nun mit Worten – übersetzt von Michael von Killisch-Horn – die ganze Welt der Klänge, die ihm zum Paralleluniversum wird. Der „Etüde von Czerny“ beugt sich die Anrichte noch, doch dann will der Junge, „fast 16, endlich Chopin“ spielen. Also müssen ein Flügel und Unterricht her. Doch die nach Paris eingewanderte Polin Pylinska heißt ihn, sich unter den Pleyel zu legen, tiefe Töne wie den Ritt auf Kirchenglocken, hohe wie Tropfen zu empfinden.
Was Éric-Emmanuel Schmitt nun folgen lässt, sind keine schnöden Unterrichtsstunden, sondern Lehren und Lernen über die Musik „als zuallererst körperliche Erfahrung“ und den Menschen als ihren Resonanzboden. Harmonische Linien ähneln hier Farben, die ineinander fließen; Musik schafft eine Welt ohne Berechnung und Pragmatismus.
Hausheiliger der Exil-Polin ist natürlich Frédéric Chopin, und so kriegen alle anderen Komponisten gar nicht subtil ihr Fett weg: Liszt schuf nur „fliegende Teppiche“, Schubert landet ebenso im Abseits wie die drei Tenöre, Bach zeichnete nur, wo Chopin malte. Für ihn verrenkt sich sogar die Spinne über dem Flügel; doch das ist nicht Chopins Geheimnis, das Madame Pylinska ihm und uns verrät. Und auch die sterbenskranke Tante Aimée hat noch etwas zu beichten, ehe auch sie den Jungen ins Leben entlässt. Der wird künftig nicht „wie ein Geiziger nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Körper“ Musik hören.
Leider muss sich der Leser schon nach 91 Seiten aus diesem Universum verabschieden, so wie Éric-Emmanuel Schmitt einst von den Tasten des Klaviers. Ob er die Tastatur der Schreibmaschine genauso lieben gelernt hat, verrät er uns allerdings nicht.
Ute Grundmann