Dinescu, Violeta

Lytaniae für Celli

Marcel Spinei (Violoncello in Mehrspur-Playback)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Gutingi 25
erschienen in: das Orchester 02/2015 , Seite 81

Violeta Dinescu, geboren in Bukarest und in den Medien meist als rumänische Komponistin bezeichnet, ist eigentlich in Lebensführung und Werk längst eine deutsche Künstlerin. Nach dem Studium in Bukarest kam sie als junge Frau 1982 nach Deutschland. Auf teils kirchenmusikalische Lehrtätigkeiten in Heidelberg, Frankfurt am Main und Bayreuth hin wurde sie 1996 zur Professorin für Angewandte Komposition an der Universität Oldenburg berufen. Dort lädt sie seit 1996 zu Komponisten-Kolloquien mit vielfältigen Themen ein. Mauricio Kagel, Krzysztof Penderecki, Heiner Goebbels, Adriana Hölszky zählten zu den prominenten Gästen.
Doch dies ist klar: Dinescu ist nicht eine Pädagogin, die auch komponiert. Nein, ihr Werk ist so umfangreich und komplex, dass sie zu den kreativsten Musikern des Landes zählt. Die CD Lytaniae für Celli steht
allein in jüngster Zeit in einer Reihe mit Kompositionen für Perkussionsensemble, Klaviertrio und Saxofonquartett auf Tonträgern. Zu ihren international immer wieder aufgeführten Hauptwerken zählen die Opern Eréndira (nach Márquez), Der 35. Mai (nach Kästner) und Effi Briest (nach Fontane) oder Stummfilmmusiken zu Murnaus Tabu und Nosferatu. Wie diese Auftragswerke schuf sie auch groß besetzte Oratorien wie An den Strömen von Babel 2007 für die Philharmonie Luxembourg.
Die Kammermusik steht für Dinescu in neuerer Zeit im Zentrum, nicht zuletzt durch die langjährig enge Zusammenarbeit mit dem rumänischen, doch auch häufig im Westen auftretenden Trio Contraste. Für Ion Bogdan Stefanescu, den Flötisten des Trios, komponierte sie Serien von Solostücken, die im Studio mit Playback-Überblendungen ausgeformt wurden zu opulenten Klangkunstwerken. Diesem Konzept folgt Dinescu bei den Lytaniae mit dem Cellovirtuosen Marcel Spinei, einem wie sie selbst äußerst vielseitigen Künstler, dessen Bezüge von Bachs Solosonaten bis zur Musik seines Lehrers Iannis Xenakis reichen. Das Cello spielt damit erstmals eine besondere Rolle in ihrem Werk.
Um eine Litanei (ein Bittgebet im Wechselgesang) aus dem Codex des Mönchs Johannes Kajoni der Barockzeit kreisen die weiteren acht Varianten der Serie. Das zentrale fünfte Stück bildet als Solo für fünfsaitiges Cello – zurückverweisend auf Bachs Suite Nr. 6 in D-Dur BWV 1012 – den Kern der weiteren Litaneien in Besetzungen von drei bis 53 Celli. So entstehen viele verhalten oder wuchtig orchestral wirkende Passagen. Das weckt die Assoziation postmoderner Klangflächenmusik etwa bei Ligeti oder ähnlich des sogenannten Katastrophen-Akkords in Mahlers Adagio X. Aber auch die instrumentalen Mittel des Cellos wie Doppelgriffe und Glissandi oder Vibrati werden – etwa im klagenden Melos des Ausgangsmaterials – breit genutzt. Die Lytaniae erweisen sich als hochinteressantes Werk, und dies nicht nur für Streicher, da die Stücke auch auf anderen Instrumenten zu spielen sind – wie etwa 2013 die Lytaniae II in Baden-Baden mit Violine und Cello uraufgeführt wurden.
Günter Buhles