Christian Gerhaher
Lyrisches Tagebuch
Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm
Dieses Buch ist keine Sammlung von Gedichten und doch spielen sie eine zentrale Rolle. Denn sie sind die eine Basis seiner „Arbeit am Lyrischen“, wie Christian Gerhaher selbst es nennt. Die zweite Basis sind Wunsch und Wille des Komponisten, den Versen seine Gestalt zu geben – und schon ist die Diskussion um Werktreue und künstlerische Freiheit nicht weit. Und da ist natürlich das „Arbeitsmaterial“ des Sängers: Stimme, Technik, Einfühlung, Expression, Emotion. Von der es aber, so des Sängers Credo, nicht zuviel geben darf.
Diese Fragen treiben den renommierten Liedgestalter schon lange um, nun kann man Gerhaher auf seinen Gedankengängen folgen. Dazu werden die Gedichte nicht beiläufig, sondern prägnant präsentiert, immer mit den Namen der Verfasser (was nicht jedes Programmheft leistet). Dann analysiert der Sänger sie Vers für Vers, die Geschichte, die sie vordergründig erzählen und die, die sich vielleicht dahinter verbirgt. So ergibt sich auch eine, immer wieder aufgenommene, Gegenüberstellung von Kunst- und Volkslied, den Welten, die sie aufbauen, beleuchten oder zertrümmern. Auch den Komponisten, von Schumann bis Rihm, von Schubert bis Holliger, spürt der Sänger nach – auch, um sich der Basis, auf der er seit gut 30 Jahren steht, immer wieder zu vergegenwärtigen und zu vergewissern.
Das ist nichts, was man nebenbei oder mal eben weglesen könnte, man muss dem Bariton schon folgen auf seinen Wegen, auch wenn es mal nicht die eigenen werden. Er denkt schreibend unaufgeregt nach, hat klare Meinungen, will „meine Überzeugung klar werden lassen“, und belegt sie, wenn nötig, auch mit Noten, Unterstreichungen, optischen Silbenbetonungen. Verbunden ist das alles mit großem Respekt – vor Komponisten, Dichtern und Kollegen. Dabei gibt es Gerhaher nie allein, immer als „Gerold Huber und ich“; Hermann Preys Einspielung der Gesellen-Lieder von Mahler sind ihm „heilig“ – und ließen ihn, beim selben Unterfangen, „mit weißer Fahne auf die Bühne“ gehen.
Anekdotisch ist Gerhaher dabei nie, auch wenn er es einmal schafft, Don Giovanni mit einer Bahncard zusammenzubringen. Nüchtern berichtet er von Erfolgen und Scheitern. Erinnerungen, Rückblicke haben immer Sinn und Wirkung für sein Handwerk, ob es darum geht, dass in der „Liebesbotschaft“ weder ihm noch der Phrase „die Luft ausgeht“; ob er der Frage nachgeht, was passieren würde, kämen die besungenen Sehnenden je zusammen. Zimperlich mit sich selbst ist Gerhaher dabei nicht: Von Heinz Holliger, dem Polyhistor, habe er „vieles unter ihm in den Sand gesetzt, und seine Nachsicht wollte dennoch nicht enden“. „Hasenherz“, „Spatzenhirn“ attestiert der Sänger sich selbst angesichts von dessen Werken. Aber er erklärt und deutet eben auch Wolfgang Rihms besondere Art des Legato als eine „modellierbare Strecke vielgestaltigen Klangs“. Gerhaher bleibt auf der Suche nach Fortschritt und Fortentwicklung seiner Kunst und seiner Leidenschaft für den Liedgesang.
Ute Grundmann