Chris Walton
Lügen und Erleuchtungen
Komponisten und ihre Inspiration von Wagner bis Berg
In Hans Pfitzners Palestrina endet der erste Akt mit einem spirituellen Erlebnis der Titelfigur: Dem schöpferisch ausgelaugten Renaissance-Komponisten erscheinen Meister der Tonkunst und spenden ihm neue musikalische Kräfte. Pfitzner verteidigte geradezu verbissen, ja aggressiv die Auffassung von sublimer Inspiration, wie sie dem 17. und 18. Jahrhundert freilich noch unbekannt war. Solcher Überzeugung hatte nicht zuletzt Richard Wagner die Wege geebnet. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es durch Friedrich von Hausegger eine Umfrage zum Thema bei repräsentativen Komponisten. Die Antworten fielen freilich zu unterschiedlich aus, um zu einer verbindlichen Theorie zu taugen.
In jüngster Zeit wurde das umstrittene Thema noch einmal in einem Buch von Hermann Danuser und Günter Katzenberger aufgegriffen, welches diverse Vorlesungen zusammenfasst, wobei der Titel Vom Einfall zum Kunstwerk bereits hinlänglich andeutet, dass die Inspiration als lediglich eines von mehreren musikalischen Kriterien betrachtet wird. Chris Walton, Dozent für Musikgeschichte in Basel, legt es bei seiner Publikation noch weniger auf Lückenlosigkeit an, begnügt sich mit einem Pars pro toto, was aber zu genügend erhellenden, teilweise sogar entlarvenden Ergebnissen führt.
Walton widmet Wagner als erstem Repräsentanten seines Buchs detailversessen kritische Aufmerksamkeit. Hervorgehoben wird bei dessen Beethoven-Essay (schwerfällig, weitschweifig) ein Sophismus
, der selbst für Wagner atemberaubend ist und oft nur dazu dient, die eigene Person ins Rampenlicht zu setzen. Bei Gustav Mahlers Auferstehungs-Sinfonie ist es nicht dieser, welcher eines lügnerischen Vokabulars überführt wird, sondern sein Freund Joseph Foerster, welcher u.a. die Überzeugung äußert, dem Meister intuitiv die stimmige Einfügung von Urlicht eingeflüstert zu haben, was entstehungschronologisch und auch musikalisch widerlegbar ist.
Eine weitere Desillusionierung Waltons betrifft Alban Berg und sein Violinkonzert. Der Beiname Dem Andenken eines Engels bezieht sich auf die früh verstorbene Manon Gropius, Tochter von Alma Mahler. Die Widmung scheint quellenmäßig ebenso widersprüchlich wie die Behauptung Helene Bergs, ihr Gatte habe bei Vollendung des Werks seinen eigenen Tod vor Augen gehabt. Wesentliche Teile des Konzerts existierten aber bereits ein Jahr zuvor. Helenes Authentizität also: hübsch poetisch, aber nichts als Erfindung.
Widersprüchliches wird auch im Kapitel über Wilhelm Furtwängler dokumentiert. Dennoch dürfte stimmen, dass Komponieren in späten Jahren ein Rückzug von den Widrigkeiten des täglichen Lebens hin zu einer sicheren Innenwelt bedeutete. Der egomanische Richard Strauss war um sein leibliches Wohl ebenso bemüht wie um die Präsenz seiner Werke in der Öffentlichkeit. Selbst die hinreißenden Vier letzten Lieder haben sich bei Walton einer schmerzhaften Realitätsforschung zu stellen. Seine Darlegungen erfordern trotz des flüssigen Erzählstils ständiges Nachdenken und Nachblättern.
Christoph Zimmermann