Christian Strehk

Lübeck: Die entschleierte Vorstufe von Elektra

Das Theater Lübeck punktet kühl kalkuliert und aggressiv mit Richard Strauss’ „Salome“

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 47

Ein spannungsvoller Opernabend im Theater Lübeck. Zwar sind sich Presse und Publikum weitgehend darüber einig, dass der Opernsparte eine unverschwiemelt werknahe Interpretation von Richard Strauss’ genialem Psychokrimi Salome nach Oscar Wilde gelungen und die Gesangspartien sehr gut besetzt sind. Am Philharmonischen Orchester aber scheiden sich die Geister.
Generalmusikdirektor Stefan Vladar rudert die Partitur nämlich mit viel Überdruck in Richtung Elektra, Strauss’ noch aggressiverer, noch moderner gedachten Folgeoper. Das schwüle Parfüm des im Entstehungsjahr 1905 noch nachwirkenden Fin de siècle eines überreizten romantischen Jahrhunderts und die psychologisierende Raffinesse der lauernden Salome-Partitur kommen zu kurz.
Vieles ist im Orchester schlicht zu vordergründig laut, zu kantig, zu sehr panischer Schrecken, zu unbeherrscht im Detail. Zum Glück kommen starke Stimmen wie Wolfgang Schwaningers herrlich lauthals ätzender Herodes oder die pseudomütterlich bollernde Herodias von Edna Prochnik damit dennoch zurecht. Die Regie stilisiert ihre Elternschaft als Brutstätte für Missbrauch und Vernachlässigung. Herrlich schrecklich …
In der kalt gefliesten Küche ihres eisgrauen Palastes weiß man sofort: Hier geschieht nichts Gutes. Die befrackten Bediensteten wirken verhuscht. Die höhere Tochter des Hauses sucht irgendeinen Sinn im Leben. Aber Tabledance-Sinnlichkeit ist alles, was sie zustande bringt. Als aus dem Weinkeller (oder vielleicht sogar nur ihrem eigenen Inneren …?) blechern die seltsame christliche Botschaft eines gefangenen Propheten hervordröhnt, ist gegen jeden guten Rat ihr Interesse geweckt.
Der große Seelenschatten Jochanaan hält ihr, das zeigt die Lübecker Neuinszenierung von Richard Strauss’ Durchbruchsoper sehr schön deutlich, den Spiegel vor: Die junge Frau ist in ein königlich vergoldetes Horrorkabinett aus Lieblosigkeit und Selbstsucht hineingeboren.
Regisseurin Christiane Lutz erzählt die berühmte, einst skandalträchtige Handlung mit kühl kalkulierter Präzision und guter Personenführung. In der schnörkellos kargen Ausstattung von Christian Tabakoff erzwingt die unheilbar psychologisch vermurkste Titelfigur die Tötung des zunächst backfischhaft angeschwärmten Anklägers. Sie kann nicht ertragen, dass sie zu der gepredigten Liebe wohl nie fähig sein wird – und zerstört sich deshalb selbst.
Die griechische Sopranistin Evmorfia Metaxaki, Ensemblemitglied in der Beckergrube, ist für ihr Debüt als Salome nahezu ideal besetzt. Sie spielt und tanzt ausdrucksstark, verführerisch und widerspenstig zugleich. Und sie singt mit aufmüpfigem Teenager-Klang und wenn nötig brennend präsentem Strahl. Auch die Diktion ist wirklich eindringlich verständlich. Mit der Zeit wird sie bestimmt noch mehr Farben hinzumischen.
Ihr Wunschbild-Gegenüber ist prominent besetzt. Bo Skovhus, der langjährige dänische Liedpartner von Lübecks Generalmusikdirektor, gibt einen ungerührt kantig abweisenden Jochanaan. Er ist weniger ein üppig bassbaritonales Stimmwunder, glänzt aber in wichtigen Momenten in Sachen Sprachgewalt. Kein Wunder, dass im Premierenpublikum nach spannenden anderthalb Stunden durchweg begeisterte Zustimmung laut wird.