Hans-Joachim Hinrichsen

Ludwig van Beethoven

Musik für eine neue Zeit

Rubrik: Buch
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler
erschienen in: das Orchester 06/2020 , Seite 61

Beethoven und kein Ende: Im laufenden Jahr 2020 hätte seine Musik anlässlich des 250. Geburtstagsjubiläums im Konzertbetrieb noch mehr Konjunktur erleben sollen – wäre es nicht seit März zum Corona-Shutdown gekommen. Zumindest die Beethoven-Literatur wird um weitere mehr oder weniger gewichtige Beiträge anschwellen. Zu den bedeutsamen und anspruchsvollen zählt mit Sicherheit die vorliegende Neuerscheinung des emeritierten Züricher Ordinarius für Musikwissenschaft, Hans-Joachim Hinrichsen, die im Untertitel Beethovens Werk als „Musik für eine neue Zeit“ apostrophiert. Diese griffige Formulierung verrät jedoch kaum, was Hinrichsens eigentliches Anliegen ist. Im Großen und Ganzen geht es ihm zunächst darum, eingeschliffene Stereotypen des Beethoven-Bildes auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen, etwa das Doppel-Klischee, Beethoven sei ein „einsamer Revolutionär“ gewesen. Dem will Hinrichsen eine „differenzierte Darstellung von Beethovens Leben und Musik“ entgegensetzen, die beides „zwischen den Extremen der radikalen Kompromisslosigkeit und des kalkulierten Opportunismus“ verortet. Leben und Musik: Ersteres tritt in der Darstellung in den Hintergrund zugunsten einer Musikanalytik, die freilich in etwa chronologisch verfährt, von Beethovens frühen Lehrjahren in Wien bis hin zum „Spätwerk“ reicht und selektiv sowohl Haupt- als auch Nebenwerke unterschiedlicher Gattungen betrachtet. Auf Notenbeispiele verzichtet der Band: Die einzelnen Analysen wollen also anhand eines zusätzlichen Notentexts nachvollzogen werden. Die Werkauswahl wird freilich durch das eigentliche Kernanliegen Hinrichsens gesteuert, Beethovens geistige Zeitgenossenschaft zu Kant und Schiller zu betonen und nachzuweisen, wie deren Philosophie bzw. Ästhetik Beethovens Komponieren beeinflusste. Dabei kann Hinrichsen sich auf die Tatsache stützen, dass Beethoven manche Schriften Kants las oder sich bereits in seinen Bonner Jahren zumindest im Wirkungskreis von dessen „Denkungs-Art“ bewegte. Seine Thesen, was den Einfluss Kants und Schillers auf Beethovens Werk betrifft, kann Hinrichsen ebenso eloquent wie analysegestützt untermauern, ob er nun Beethovens frühe Werke im Rahmen einer „aufgeklärten Gesprächskultur“ beleuchtet, dessen Auseinandersetzung mit der (erst später so genannten) Sonatenform als „rigorose Selbstgesetzgebung“ deutet oder im Werkpaar von fünfter und sechster Symphonie Kants Vision verwirklicht sieht, dass „Vernunftideen“ in der Kunst „versinnlicht“ werden könnten. Zügig lesen kann man dieses Buch nicht, sondern muss sich auf die Anstrengung des Begriffs und die Argumentationen der Kant’schen Kritiken einlassen. Doch auch wenn der Leser vielleicht nicht in jedem Detail den Deutungen Hinrichsens folgen will: Die aktive Auseinandersetzung mit seiner Darstellung, wie sich das Gedankengut der Aufklärung in Beethovens Musik niederschlug, verspricht reichen Erkenntnisgewinn.
Gerhard Dietel