Ludwig van Beethoven

The Complete Symphonies

Gewandhausorchester Leipzig, Ltg. Herbert Blomstedt

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Accentus Music
erschienen in: das Orchester 01/2018 , Seite 68

Kurz bevor Herbert Blomstedt am 11. Juli 2017 seinen 90. Geburtstag feierte, erschien quasi als eigenes Geschenk seine zweite Gesamteinspielung aller Symphonien von Ludwig van Beethoven mit dem Gewandhausorchester Leipzig. Gleich zu Beginn der 1. Symphonie wird man beim Übergang zwischen Adagio molto und Allegro con brio im ersten Satz in den Bann gezogen: Blomstedts erstaunliche musikalische Vitalität, die er bei seinen Konzerten ausstrahlt, ist tatsächlich auch in der Aufnahme erfahrbar.
Blomstedt leitete das Gewandhausorchester Leipzig von 1998 bis 2005 und ist dem Spitzenorchester als Ehrendirigent weiterhin verbunden – im Herbst 2017 war man zusammen auf Tournee. Die Vertrautheit spielte bei dem Unterfangen einer neuen Gesamteinspielung aller Beetho­ven’schen Symphonien sicherlich keine unbedeutende Rolle.
Von 2014 bis 2017 entstanden die Aufnahmen und man fragt sich, wie klingt Beethoven, interpretiert von einem an Reife fast nicht mehr zu überbietenden Dirigenten? Blomstedt ist ein Textgetreuer und darin liegt auch der Schlüssel zu seinen Interpretationen: Er will die Musik schlichtweg genauso wiedergeben, wie Beethoven sie gemeint hat. Darin ist er Riccardo Chailly ähnlich, Chefdirigent der Leipziger von 2005 bis 2016: Dessen Gesamteinspielung von 2011 sorgte aufgrund der fast wörtlich genommenen Tempoangaben Beethovens für Wirbel. Blomstedt knüpft daran an, wie er im Booklet verlauten lässt: „Für mich steht der Komponist immer über der Interpretation.“ Er nimmt die Metronomangaben tatsächlich als verbindlich an und kann dabei auf das herausragende Können der Leipziger zählen. Blomstedt interpretiert, ohne in die Extreme zu gehen, lässt die Musik fließen. Im ersten Satz der 3. Symphonie schafft er Dramatik ohne Schwere, lässt mitunter schroffe Wechsel zu, ohne sie bedeutungsschwer aufzuladen. Kontraste haben ihre Daseinsberechtigung, und er versucht nicht, sie gegeneinander auszuspielen. Damit gelingt ihm ein übergreifender Spannungsbogen bis zum Ende des Kopf­satzes. Blomstedts Beethoven-Zyklus ist stimmig: Es zeigen sich darin eine Gelöstheit und ein Respekt vor der Komposition, wie sie seiner Philosophie entsprechen.Die Einspielung besticht allgemein durch souveräne Zielgerichtetheit – im ersten Satz der Pastorale gestaltet Blomstedt Abschnitte mit Repetitionen als konsequente Steigerungswellen. Stets hat er den großen Bogen im Blick, wie beim furiosen, aber ebenso grandiosen zweiten Satz der 9. Symphonie, der damit jeder Gefahr entgeht, zergliedert zu erscheinen. Das Finale der Neunten zeigt unter Blomstedt all seine Facetten: Vom erzählenden bis zum fast metaphysisch-inniglichen Gestus reicht hier die Palette.
Auch das Gesamtpaket der CD-Box überzeugt mit einem aufschlussreichen Booklet, ohne übertriebene Aufmachung – im Gegenteil. Fotos aus Blomstedts Laufbahn geben der Kompilation eine persönliche Note und lassen sie wie eine Hommage wirken: Was sie ja vielleicht auch ist.
Desiree Mayer