Claudio Monteverdi
L’Orfeo
Ensemble Vocal de Poche, I Gemelli, Ltg. Emiliano Gonzalez Toro
Während bis vor zehn Jahren Neueinspielungen dieses frühesten Opernwerks in regelmäßigen Abständen herauskamen, ist seitdem der Strom nahezu versiegt. Monteverdis „favola in musica“ – so wurden diese ersten Opern bezeichnet – erscheint nun nach über dreijähriger Pause in einer Studioaufnahme. Aufgenommen wurde sie im Januar 2020 im Corum in Montpellier, einem modernen Opernbau aus den 1980er Jahren.
Hinter diesem Projekt steht der Tenor Emiliano Gonzalez Toro, bisher hauptsächlich als Händel-Interpret bekannt. Er verkörpert nicht nur den Orfeo, sondern ist auch der Dirigent der Aufnahme. Nicht zuletzt ist er aber auch konzeptionell der Impulsgeber, wie man einem der Kurzessays im Booklet entnehmen kann.
Hier erklärt er unter anderem die Wahl der Tempi für die einzelnen Nummern dieser frühen Oper. Als Orientierungspunkt dient die große Arie des Orfeo „Possente Spirto“ im inhaltlichen Zentrum des Werks. Das dort festgelegte Tempo – Gonzalez Toro spricht von „tactus“ oder Puls – bestimmt alle anderen Teile der Oper. Abhängig von der emotionalen An- oder Entspannung beschleunigt oder verlangsamt sich der Puls, was die auffälligen Extreme erklärt.
Bis auf den Beginn wird praktisch der gesamte erste Akt in einem herausfordernd zügigen Tempo genommen. Das Chorstück „Lasciate i monti“ wirkt dadurch beispielsweise recht gezwungen, in den Instrumentalritornellen werden bisweilen Verzierungen geradezu verschluckt. Auch das berühmte tänzerische Ritornell „Vi ricorda“ aus dem zweiten Akt fliegt an den Hörern geradezu vorbei. Das „Possente Spirto“, der oben erwähnte Orientierungspunkt, beginnt hingegen in einem getragenen, einer Trauermusik angemessenen Tempo, wodurch die ornamentale Struktur besonders eindrucksvoll hervorgehoben werden konnte. Zweifellos handelt es sich bei diesem Satz um ein interpretatorisches Glanzstück, das Gonzalez Toro hier gelingt.
Gesanglich hat sich Gonzalez Toro ganz der Wortausdeutung verschrieben, wie es dem monodischen Charakter vollkommen entspricht. Dadurch entwickelt er eine sehr stark ausgeprägte stimmliche Dramatik, die in anderen Aufnahmen, so z. B. bei Jordi Savall, nicht zu vernehmen ist. Auch ein an eine vibratofreie, glatte Stimmlichkeit gewohnter Hörer wird diese Expressivität zu schätzen lernen. Die anderen Sänger passen sich in diese konzeptionelle Ausrichtung ein: Mezzosopranistin Natalie Pérez als Botin mit einem brillanten Timbre und Bassist Jérôme Varnier, der den Fährmann Caronte überzeugend darstellt. Lediglich Emőke Baráth (Sopran) fällt in ihrer Rolle als La Musica dagegen ab. Das Ensemble Vocal de Poche meistert die Anforderungen von Partitur und Interpretation hingegen eindrucksvoll. Die 31 Instrumentalisten von I Gemelli begleiten klanglich ausgeglichen und dennoch virtuos, wo es nötig ist.
Das Booklet in französischer und englischer Sprache enthält das Libretto, Porträts der ausführenden Musiker sowie zwei Kurzessays.
Karim Hassan