Die Karussellorgel (1908) / © Siegfrieds Mechanisches Musikkabinett

Antje Rößler

Loreley und Kinoorgel

„Siegfrieds Mechanisches Musikkabinett“ in Rüdesheim ist Höhepunkt vieler Flusskreuzfahrten

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 7-8/2022 , Seite 41

Eine winterliche Kreuzfahrt auf dem Rhein – der Gedanke ist erst mal gewöhnungsbedürftig. Während unserer dreitägigen Reise auf der MS nickoSpirit war das Wetter trübe, neblig und verregnet. Aber Anfang Dezember zeigte die traditionsreiche Flusslandschaft, die voller Geschichten, Lieder und Legenden steckt, einen ganz eigenen Reiz: Die Gegend liegt dann gleichsam im Winterschlaf; andere Passagierschiffe sind kaum zu sehen.
Vor dem Kabinenfenster zieht die Bilderbuchlandschaft vorbei, die als „Oberes Mittelrheintal“ den Welterbe-Status erhalten hat. Schmale Dörfer und Städtlein schmiegen sich ans Ufer. Weinhänge wechseln mit Felsen, auf deren Vorsprüngen die pittoresken Höhenburgen thronen. Die Gegend ließ einst die Herzen der romantischen Künstler:innen höher schlagen; auch das von Heinrich Heine, der die alte Sage von der Loreley in unsterbliche Verse fasste.
Auch wir passieren Deutschlands berühmtesten Felsen. Wo sonst Ampeln den Andrang der Schiffe regulieren, treibt die nickoSpirit nun ganz allein auf dem winterlichen Fluss. Als unser Schiff sich dem Felsen nähert, schallt das Lied von der Loreley aus den Lautsprechern – allerdings hat man Friedrich Silchers berühmter Melodie ein kitschiges Schlager-Arrangement verpasst. Später passieren wir das Niederwalddenkmal mit der bronzenen Germania. Es ist ebenfalls mit einem Lied verbunden, mit der pompös-patriotischen Hymne Die Wacht am Rhein.
Schließlich legen wir im Wein-Städtchen Rü­des­heim an, das vor Ausbruch der Pandemie jährlich drei Millionen Besucher aus aller Welt anlockte. Nun bummeln nur wenige Leute durch die zwei Meter schmale und 144 Meter lange, von Fachwerk gesäumte Drosselgasse. Noch vor drei Jahren befand sich hier ein Zentrum der globalisierten Spaßkultur: Amerikaner und Asiaten gerieten bei Remmidemmi-Musik, Schnitzel mit Rahmsauce und Rheingau-Riesling ins Schun­keln.
Kultureller Höhepunkt unserer Rhein-Kreuz­fahrt ist eine Führung durch „Siegfrieds Mechanisches Musikkabinett“, das oberhalb der Drosselgasse die gotischen Gewölbe eines Rittersitzes bezogen hat. Der Werbeslogan „Ihre Ohren werden Augen machen“ trifft ins Schwarze. Die einzigartige Sammlung umfasst hunderte von selbst­spielenden Instrumenten: Spieldosen, Phonographen, Musikautomaten. Von der filigranen barocken Flötenuhr über den Berliner Leierkasten bis zur monumentalen Kinoorgel. Auch eine Polyphon-Lochplatte mit der Loreley-Melodie wird zum Klingen gebracht. Besonders raffiniert ist die Konstruktion des Hupfeld-Violina-Orchestrion, das mehrere Geigen zum Klingen bringt, die sich in Rosshaar-Bogenkäfigen drehen.
Zum Auftakt erleben wir einen flotten Ragtime mit dem „Weber Maesto“ [sic] von 1925, der einst ein 16-Mann-Orchester ersetzte und in Ballsälen zum Einsatz kam. Dann gibt der Bechstein-Welte-Flügel den Tasten einen gefühlvollen Anschlag, ohne dass ein Pianist beteiligt ist.
Ein weiterer Hingucker ist die buntbemalte und ohrenbetäubend laute Orchester-Orgel, die einst ein Karussell auf einem Budapester Jahrmarkt zierte, ein Produkt der Orgelbauer Bruder aus Waldkirch im Schwarzwald. Hier hört tatsächlich das Auge mit: Ein holzgeschnitzter orientalischer Magier mit Turban und Mondsichelschmuck schlägt den Takt, während seine Gefährtinnen die Glöckchen anschlagen. Zu hören gibt es den schmissigen Operettenschlager Puppchen, du bist mein Augenstern.
Rund 350 Exponate hat der Museumsgründer Siegfried Wendel zusammengetragen. Seine Leidenschaft für Musikautomaten begann er in den Sechzigern während der Hochzeitsreise nach Kalifornien, wo er in der Nähe von Los Angeles ein Freiluftmuseum mit Musikautomaten entdeckte. 1969 eröffnete er in Hochheim am Main das „Erste Deutsche Museum für mechanische Musikinstrumente“. Sieben Jahre später mietete er sich im Brömserhof ein, dem verwinkelten Rittersitz unweit der Rüdesheimer Drosselgasse.
Siegfried Wendel starb 2016. Sein Sohn Jens Wendel und dessen Familie führen den Fami­lienbetrieb weiter, inzwischen als Besitzer des Brömserhofes. Die Nachfolge ist also gesichert. Jens Wendel, gelernter Schreiner, kümmert sich mit seinem Team selbst um die Restaurierung und Erhaltung der Instrumente. Sogar ein Berliner Hinterhof wurde im Musikkabinett liebevoll nachgestaltet. Hier dürfen die Besucher:innen selbst am Leierkasten drehen. Und sie hören die Geschichte von der Entstehung der Dreigroschenoper: Bertolt Brecht und Kurt Weill wurden beim Drehorgelbauer Bacigalupo vorstellig, der die Moritat von Mackie Messer auf eine Walze übertragen sollte.
Bis 2019 profitierte das unterhaltsame und vielfältige Museum vom Boom der Flusskreuzfahrt. Damals kamen jährlich rund 130000 Besucher:innen in das Musikkabinett; darunter zahlreiche Kreuzfahrttouristen auf Landgang. Die Museumsführungen wurden in neun Sprachen angeboten. Derzeit erscheint nur ein Bruchteil der früheren Besucherzahlen. Eine kritische Situation, erhält doch das private Museum, abgesehen von den Corona-Hilfen, keine öffentliche Förderung.
Auch das größte Exponat in „Siegfrieds Mechanischem Musikkabinett“ blieb im vergangenen Winter meist stumm: die Welte-Kinoorgel, die 1929 im Metropol-Theater in Bonn eingeweiht wurde. Sonst kamen ihre vielfältigen Spezial-Effekte vor allem in der Weihnachtszeit zum Einsatz, während Dick & Doof ihrem Big Business nachgingen. Der 1929 uraufgeführte Streifen ist einer der letzten Stummfilme von Laurel und Hardy. Zur selben Zeit beendete das Radio die Ära der selbstspielenden Musikautomaten. Inzwischen waren die Röhrenempfänger preiswert genug geworden, sodass sich immer mehr Bürger:innen die neue Technik leisten konnten, um stets und ständig Musik zu hören.

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