György Dragomán

Löwenchor

Novellen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Suhrkamp
erschienen in: das Orchester 07-08/2019 , Seite 61

Sein Vater baute sich eigenhändig Lautsprecher, doch seine Lieblingsplatte hörte er damit nie. Die Wagner-Arien aus dem Jahr 1952 waren eine Rarität, weil die Aufnahme eingestampft worden und der Sänger verschwunden war. Am ersten Jahrestag seines Todes hört der Sohn die so geschonte Platte endlich und sie setzt nicht nur ihn, sondern die ganze Wohnung in Schwingung. So verzaubernd erzählt der 1973 in Siebenbürgen geborene György Dragomán von der Wirkung, die Musik haben kann. Und davon handelt auch sein ganzer Novellenband Löwenchor, mal melancholisch wie bei der verfemten Wagner-Aufnahme, mal komisch wie beim Schlagzeuger, der seit 15 Jahren nicht mehr gespielt hat, aber seinen Schlägel immer noch wie ein Heiligtum hütet, weil er damit mal bei Wynton Marsalis eingesprungen war.

29 kurze Schlaglichter hat Dragomán versammelt, beginnend mit der leicht gruseligen Geschichte „Der eiserne Bogen“: Ein Junge muss jede Minute im Wettstreit gegen den schwarzen Geiger üben, 37 Lieder besser als er spielen. Wenn das gelingt, bekommt der Junge Geige und Bogen geschenkt und der schwarze Mann wird den verdorrten Birnbaum hochkraxeln und davonfliegen. Spielt er schlechter, wird der Geiger ihm mit dem eisernen Bogen alle Finger brechen. Zu diesem unermüdlichen Üben wippt des Vaters Schaukelstuhl wie ein Metronom, fahren die hohen Töne in die Zähne und lassen die Ohren klingen.

Das bewirken auch die meisten Geschichten des Autors, ob nun aus dem sehnsüchtigen Blick auf einen seltenen Geldschein ein Raubüberfall wird oder Tante Olga das Kunststück fertigbringt, ein Stück Fleisch für die Suppe zu besorgen. Und bei aller Leichtigkeit seines Erzähltons gelingt es Dragomán immer wieder, unaufgeregt auf Mangel und Repressionen während des Ceaucescu-Regimes hinzuweisen: Manipulierte Wahlen, Demonstrationen, Marschklänge, Gummiknüppel oder das Endlich-reisen-Dürfen, weil ein Pass gewährt wurde, werden fast beiläufig erwähnt.

Zwar gelingen nicht alle der von ­Timea Tankó übersetzten Novellen. Bei einigen Geschichten bleibt der Bezug zur Musik aus und diese Stücke funktionieren dann auch nicht. Umso schöner geht es aber bei der Kurzgeschichte von der erst 14-jährigen Sängerin in Konzertkleid und Absatzschuhen auf, aus der die Klänge nur so hervorbrechen und die Cry me a river überzeugend singen kann, obwohl sie noch nie verliebt oder verlassen worden war. Es gibt einen kleinen Zyklus von zauberhaften Großvatergeschichten, darunter die titelgebende Erzählung „Löwenchor“ um ein altes Grammofon. Auch dem Jungen Karcsika begegnet man mehrfach, ebenso Tante Ilonka, die einem altersschwachen Fernseher das Wiener Neujahrskonzert entlockt.

Melancholisch wird es dann noch einmal bei der „Erbschaft“, in der der Sohn in den zehn Jahren nach dem Tod des Vaters dessen Lakritz, Rasiermesser, eine Zeichenmappe und dessen Russischheft entdeckt – und damit auch seinen Vater.

Ute Grundmann