Werke von Benjamin Yusupov, Iván Fischer, Giya Kancheli und anderen

Listen to our Cry

Reinhold Friedrich (Trompete), Dorothee Mields (Sopran), Eriko Takezawa (Klavier), Georgisches Kammerorchester Ingolstadt, Ltg. Ruben Gazarian

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ars Produktion ARS 38 318
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 80

Ein blind Geborener hat mal erzählt, dass er sich die Farbe Rot so vorstellt, wie die Trompete klingt. Wer diese Einspielungen hört – von Schofar bis Flügelhorn –, sieht nicht nur eine Farbe, sondern ein breites Spektrum. Die Musiker haben neun Werke zum Komplex gemacht, ihn dem Dirigenten Claudio Abbado gewidmet („den wir alle so sehr vermissen“) und als Titel ein Textstück von Rabbi Nechunya ben Hakana – 1. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung – gewählt: „Nehmt unseren Ruf wahr, hört unser Schreien.“
Das informative Booklet erklärt das Konzept und beschreibt damit den Themenkreis. Es geht um den ewigen Wanderer, den Heimatlosen, den Nomaden – vom biblischen Abraham über Ödipus und Kapitän Nemo bis hin zu Star Wars. Ein Nomade ist auch der Künstler – Klischee zwar und dennoch wahr. „Der Protagonist (die Trompete) ist […] kulturell verwurzelt, die Autoren (die Komponisten) sind die fliegenden Holländer, die Schiffe ohne Heimat.“
Konkret gesprochen: Die fünf Komponisten haben ihr Geburtsland – unter Zwang oder ohne Zwang – verlassen und sich mit dem Wandern durch verschiedene Kulturen künstlerisch auseinandergesetzt. Die Stücke tragen deshalb allesamt charakteristische Farben einer Nomadenexistenz: Trauer über Verluste, auch Wut, oft verklärende Erinnerungen oder Euphorie angesichts neuer Eindrücke. So entstanden anregende Verbindungen: Religiös-liturgische und weltlich-aufgeklärte, östliche und westliche Musiktraditionen treten in Beziehung. Schon die Titel sprechen: Eine Deutsch-Jiddische Kantate „Die Stimmen der Geister“ (Iván Fischer), Nachtgebete (Giya Kancheli), Auferstehung (Alan Hovhaness), Trennung (Luca Lombardi) und zur Eröffnung der CD das Trompetenkonzert mit Klavier und Streichern Listen to our Cry (Benjamin Yusupov).
Wenn man vom Wandern und Kultur im Plural spricht, haben die Lebensdaten der Komponisten eine gewisse Aussagekraft. Der älteste wurde 1911 geboren (Hovhaness), der jüngste 1962 (Yusupov). Und natürlich erzählt auch ihre Herkunft – von Tadschikistan nach Israel, von Ungarn nach Österreich, von Armenien nach Belgien, in die USA, schließlich mal Rom, mal Israel – respektive ihre Religion eine Menge über das 20. Jahrhundert.
Reinhold Friedrich – seit mehr als dreißig Jahren weltweit gefeiert – führt in diesen Aufnahmen auf modernen und historischen Trompeten den Zuhörer in musikalische Welten von archaisch bis zeitgenössisch, und die Sopranistin Dorothee Mields – eine Spezialistin für Musik des 17. und 18. Jahrhunderts – beweist, dass eine perfekt ausgebildete Stimme den unschuldigen Liebreiz eines Mädchens verströmen kann. Dazu spielt ein Orchester, das mit Klang, Rhythmus und feinen Farbgebungen immer wieder Räume eröffnet – und sie offenhält, ohne Spannungsverluste auch durch langsamste, lange Passagen hindurch.
Kirsten Lindenau