Aribert Reimann

L’Invisible

Trilogie lyrique nach Maurice Maeterlinck, Studienpartitur

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 04/2023 , Seite 64

Aribert Reimann (geb. 1936) stellt seiner zwischen 2011 und 2017 entstandenen und 2017 an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführten Oper L’invisible (Das Unsichtbare) das Motto voran: „Und wer sitzt da in unserer Mitte?“ Das ist ein Zitat aus dem ersten der drei Einakter, die Reimann nach den drei Stücken L’Intruse (Der Eindringling), Intérieur und La mort de Tintagiles (Der Tod des Tintagiles) des Symbolisten Maurice Maeterlinck selbst eingerichtet hat. Derjenige, der so fragt, ist der blinde (aber „hellsichtige“) Großvater, der die Anwesenheit eines unabweisbaren „Eindringlings“ wohl zu spüren scheint, sie aber nicht aussprechen kann: die des Todes. Diese Unausweichlichkeit des Todes bildet das Leitmotiv der Maeterlinck’schen Dramatik schlechthin. In Intérieur wird belauscht, wie ein „Alter“ einer Familie den Selbstmord einer ihrer Töchter übermittelt, ohne dass wir hören könnten, was er ihnen sagt, in La mort de Tintagiles versuchen zwei Schwestern vergeblich, das „Verschwinden“ ihres Bruders zu verhindern. Maeterlinck umschreibt mit geradezu trivialen, stets realistischen Handlungen symbolisch die Gegenwart des Todes, ohne ihn direkt zu benennen.
Reimann plante zunächst, die durch Interludien unmittelbar verbundenen drei Stücke in einer eigenen deutschen Übersetzung zu vertonen, entschloss sich dann jedoch, auf das französische Original zurückzugreifen, um die besondere Stimmung der Stücke besser zu bewahren. Freilich gibt er seiner Musik jedoch einen Duktus, der unverkennbar eher an den deutschen Expressionismus anschließt: im schroffen Ausdruck, in der extremen Führung der Singstimmen, in der regulierten Formentwicklung, die gleichwohl spontan und unwillkürlich wirkt, und vor allem in der gewissermaßen „schwarzen“ oder doch dunkel-prägnanten orchestralen Timbrierung, welche die fortwährende Präsenz des Todes spürbar macht und festhält. In der orchestralen Einleitung zu L’Intruse etwa teilt Reimann die Streicher solistisch auf und lässt die Harmonik in enger tiefer Lage von den Celli und Kontrabässen „sul ponticello“ bzw. „col legno battuto“ intonieren, sodass ein ins Geräuschhafte umschlagender, gleichsam nicht zu identifizierender Klang entsteht, der zugleich „präsent“ und musikalisch „rätselhaft“ wirkt.
Notiert hat Reimann die komplexe Partitur konventionell – und der Verlag hat sie mit der vorliegenden Taschenpartitur mit mustergültiger Übersichtlichkeit sowie Klarheit und Deutlichkeit des Notenbildes publiziert, sodass sie geradezu an Komplexität zu verlieren scheint. Als ein noten-typografisches Meisterwerk stellt sie dem Verlag ein allerbestes Zeugnis aus! Auf den Abdruck des Librettos in deutscher Übersetzung wurde verzichtet.

Giselher Schubert