Reynaldo Hahn
L’Île du rêve
Choeur du Concert Spirituel, Münchner Rundfunkorchester, Ltg. Hervé Niquet
Als Pierre Lotis autobiografische Erzählung Le Mariage de Loti 1880 erschien, rühmte die Tageszeitung Le Figaro sie als eines der „apartesten Werke seit Langem“. Das ließe sich vom Sonntagskonzert am 26. Januar 2020 im Münchner Prinzregententheater ebenfalls sagen. Nach CD-Editionen von Gounods Cinq-Mars, Benjamin Godards Dante, Saint-Saëns’ Proserpine und Gounods Le tribut de Zamora gelangte das Münchner Rundfunkorchester in seiner beachtlichen Reihe von Koproduktionen mit dem Palazzetto Bru Zane – Centre de musique romantique française zur Trauminsel Tahiti im ersten Bühnenwerk des zum Zeitpunkt von dessen Entstehung gerade 23-jährigen Reynaldo Hahn. Der in Caracas geborene Komponist gab seiner Begeisterung für das Sujet in berückenden Tonmalereien Ausdruck.
Beim Hören dieser CD ist es unverständlich, dass die Kritiker zur Premiere am 23. März 1898 in der Pariser Opéra-Comique die Qualität der ungewöhnlichen Werkdramaturgie nicht erkannten. Jules Massenet setzte großes Vertrauen in seinen Schüler, engagierte sich für die Aufführung des einstündigen Einakters und empfing von Hahn dafür die Widmung zu L’Île du rêve. Inhaltlich steht die melancholische Romanze zwischen Lakmé von Léo Delibes und André Méssagers Madame Chrysanthème, einem Bühnenvorläufer von Puccinis weitaus mehr geschärfter Madama Butterfly.
Aber anders als Puccinis amerikanischer Leutnant Pinkerton, der Japaner als Menschen zweiter Klasse betrachtet, will Hahns Offizier Georges de Kerven seine tahitianische Geliebte Mahénu mit sich nach Paris nehmen. Diesen Gedanken verwirft er jedoch auf Rat von Prinzessin Oréna (Anaïk Morel). Die Liebenden verabschieden sich mit einem zärtlichen „Bis morgen!“, aber sie wissen beide, dass es dieses Morgen für sie nicht geben wird und Georges mit seiner Einheit sofort in See stechen muss. Wenn Mahénu den Franzosen mit einem exotischen Ritual in die Inselgemeinschaft aufnimmt, werden aus Chorstimmen Lotuskelche. Die Liebesszenen sind umfangreicher als die Episoden des um Mahénu werbenden Chinesen Tsen Lee (Artavazd Sargsyan) und die Begegnung Georges’ mit Téria (Ludivine Gombert), die mit dessen Bruder liiert war und durch Georges vom Tod ihres Liebhabers erfährt.
Hahn kolorierte das Paradies Tahiti und die innige Beziehung Mahénus zu Georges in subtilen Melodien und feiner Instrumentation. Cyrille Dubois charakterisiert Georges mit delikater Diktion und Sensibilität. Hélène Guilmette kontert ebenbürtig mit einem klaren, nicht zu leichtgewichtigen Sopran als Mahénu. Dazu verfügt das Münchner Rundfunkorchester über geschmackssichere Kompetenz für die Partitur und kostet deren Reichtum unter dem akkuraten wie sensiblen Hervé Niquet genüsslich aus. Inspirationsmomente für die exotische Fantasie findet man in Bizets Perlenfischern, Djalimeh und Massenets Der König von Lahore. Für Anhänger der französischen Oper ist diese Aufnahme ein Muss – auch weil schon in diesem Frühwerk Hahns exklusive Begabung für den Umgang mit Sängerstimmen hörbar ist.
Roland Dippel