Sergei Prokofiev
Lieutenant Kijé Suite/Symphonies Nos. 1 + 7
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, Ltg. Tugan Sokhiev
Tatsächlich ist Sergej Prokofjews Suite aus der Filmmusik zu Lieutenant Kijé eines seiner Werke, aus dem Teile in der Popkultur ein nachschöpferisches Eigenleben gewannen. Da kommt einiges zusammen: das Flair des Weltbürgers, der in die Sowjetunion zurückkehrt; dessen kreativer Witz zwischen Stil und Ausdruck; dazu die Rätselhaftigkeit der Aussage hinter den verschlüsselnden Formen. 1932 erhielt der Komponist in Paris die Anfrage zu seiner ersten Filmpartitur. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Hochstilisierung eines Teils der russischen Geschichte, sondern um eine beißende Satire auf die Bürokratie zu der Zeit von Paul I., Sohn von Katharina der Großen.
Auf dieses Präludium folgen Prokofjews erste und letzte Sinfonie. Damit steckt diese CD quasi den programmatischen Rahmen von Prokofjews Orchesteruvre ab: Illustration, Simulation, Enigma. Zugleich ist sie ein Abschiedsgeschenk des 2016 aufgrund seiner intensiven Aufgaben am Bolschoi-Theater nach nur vier Jahren vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin geschiedenen Chefdirigenten Tugan Sokhiev und seine Hommage zum 125. Geburtstag des Komponisten.
Jetzt gibt es verschiedene Möglichkeiten der Auslegung von Prokowjefs Orchesterwerken: eine volksmusikalisch auftrumpfende, eine den Klassizismus virtuos verspielende und eine eher seltene, die aber hier die bezwingende ist. Tugan Sokhiev spürt nämlich dem geistvollen Witz und der seidigen Eleganz dieser Musik nach, über die er mit den Musikern einen weichen und verführerischen Glanz legt. Er schwelgt in den illustrierenden Momenten der Filmmusik. Er lässt in der Klassischen Sinfonie einen schon fast selbstverliebten, aber mindestens selbstbewussten Eigenton zu, der dem vielgehörten Werk endlich wieder Neuartiges, ja Aufregendes gibt. Die französischen Musikkritiker, die Sokhiev mit der Auszeichnung zur Musikerpersönlichkeit des Jahres in der Kategorie Instrumentalmusik 2014 ehrten, können diese Aufnahme noch nicht gekannt haben. Aber aus ihrer Perspektive wären sie mindestens ebenso begeistert: Diese Einspielung überschreitet manchmal gar die Schwelle zur zerfließenden Weichzeichnung, aber das muss man ihr nachsehen. Denn nach dieser weichen Rundung könnte man süchtig werden, auch weil Tugan Sokhiev das glitzernd Tänzerische mitdenkt.
Sokhiev löst sich damit auch von der sonst oft in den Vordergrund gerückten Formsimulation der Komponisten der Wiener Klassik. Damit steht dieser Klang weitaus näher bei den Fêtes galantes und ästhetisierenden Rokoko-Neuschöpfungen des französischen Fin de siècle als beim neoklassizistischen Gestus der 1920er Jahre. Mit einem Wort: Diese Emotion, diese gar nicht dicke Balance und zugleich dieser Farbreichtum haben Seltenheitswert in der umfangreichen Prokofjew-Diskografie. Deshalb erheben sie diese Einspielung des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin in den Rang einer Notwendigkeit. Genau wie dessen ganzen Prokofjew-Zyklus. Das Booklet kommt ohne Orchester-Porträt und Dirigenten-Biografie aus.
Roland H. Dippel