Mahler, Gustav
“Liebste Justi!”
Briefe an die Familie, hg. v. Stephen McClatchie
Die über 500 größtenteils bislang unbekannten Briefe Gustav Mahlers an seine Familie aus den Jahren 1876 bis 1910 sind die faszinierendsten biografischen Zeugnisse des Komponisten, die seit langem publiziert wurden. Sie erhellen nicht nur sein gesamtes Studien- und Berufsleben, sondern geben uns vor allem Einblick in sein privates Umfeld. Hauptadressatin der Briefe ist Mahlers Lieblingsschwester Justine, die sich nach dem frühen Tod der Eltern in allen praktischen Belangen um die Geschwister Emma, Otto und Alois zu kümmern hatte, während Gustav aus der Ferne gewissermaßen als Familienoberhaupt agierte, eine Rolle, die ihm als Ältestem und einzig beruflich Erfolgreichem unfreiwillig zufiel. Dabei wird deutlich, wie einfühlsam und geduldig Mahler die Ausbildung seiner Brüder mit Rat und großzügiger finanzieller Tat begleitete, wie streng und kompromisslos er andererseits auftrat, wenn ihn die Brüder wiederholt nicht nur in finanziellen Dingen hintergingen und seine ernormen Anstrengungen um Privatlehrer, Ausbildungs- oder Arbeitsplätze ausschlugen.
Wie hoffnungslos Mahlers gemeinsam mit seiner Schwester getätigte Bemühungen letztlich waren zumindest im Fall des musikalisch begabten Otto, der Selbstmord beging , bestätigen vom Herausgeber Stephen McClatchie eingeflochtene unveröffentlichte Passagen aus Nathalie Bauer-Lechners Erinnerungen, die der gesamten Familie sehr nahe stand und bis 1901 gemeinsam die Sommerurlaube mit den Mahlers verbrachte. Geldfragen (und -sorgen) sind seit der unglücklichen Übernahme des Iglauer Familienerbes, die Helmut Brenner im Anhang erhellend aufklärt, bis zur Jahrhundertwende ein Hauptthema der Briefe.
Aber auch über Mahlers wechselndes Verhältnis zu seinen Orchestern, Sängern, Kollegen, Intendanten, ja über den gesamten Plan seiner beruflichen Karriere einschließlich derjenigen als Komponist enthält die Korrespondenz wesentliche, weil eben offenherzige Auskünfte. So belegen die Briefe, dass Mahler bereits seit September 1891, also fünfeinhalb Jahre vor seiner Berufung an die Wiener Hofoper, diesen Schritt vorzubereiten begann. Dass die Wiener Phase dann nach allen Wirren eine zumindest für gewisse Zeit glückliche wurde, lag auch an der Veränderung der familiären Umstände.
Fast scheint es so, als habe Justines enge Verbindung mit dem Wiener Konzertmeister Arnold Rosé Gustav Ende 1901 zusätzlich motiviert, sich zu verehelichen. Der Wahl der jungen Alma Schindler jedenfalls, und das belegen diese Brief en detail, hat Justine als engste Beraterin enthusiastisch zugestimmt: Es kommt mir [darauf] an, [
] dass sie gut ist und Dich liebt, denn dann kannst Du Dir sie erziehen, wie Du mich ja erzogen hast. [
] Weißt Du, dass ich heirathen muß, fühle ich als absolute Notwendigkeit für uns beide. Du wirst eben auch heirathen und das wird die Lösung für Alles sein. Deine Frau wird nicht anders können als Dich leidenschaftlich lieben, Du zwingst ja jeden dazu [
]. Mahler selbst war hier weit mehr Bedenkenträger und sah Probleme bereits voraus, ja zweifelte sogar daran, ob er das Recht habe, soviel Jugend und Lebensfrische an seine Überreife [
] zu ketten. Andererseits zeigen die Briefe, wie früh er der wesentlich älteren Nathalie Bauer-Lechner die leidenschaftlich in ihn verliebt war bereits deutlich gemacht hatte, dass mit ihr nicht mehr als ein freundschaftlich-kameradschaftliches Zusammenleben möglich sei (Anfang 1893 nämlich), da er sich mitunter geradezu vor ihren Bevormundungen fürchtete. Der auch im Privaten dominante Mahler suchte offenkundig eine willensschwächere Frau, scheint sich aber erst im Spätsommer 1901 bewusst von Bauer-Lechner getrennt zu haben.
Neben diesen psychologisch wertvollen Einblicken enthält die Korrespondenz natürlich auch reichlich Allzumenschliches. Hauptthema ist immer wieder die Gesundheit, weniger diejenige Mahlers als die seiner Schwester, um die er sich permanent Sorgen machte. Andererseits werden durch diese und unzählige andere private Details sehr plastisch die persönlichen Lebensumstände Mahlers und seiner Zeit deutlich, die er mal mit ironischem, mal mit verärgertem Ton kommentiert. Es ist der vorbildlichen Arbeit des Herausgebers und seines deutschen Redakteurs zu danken, dass diese Quellen jetzt in einer überaus gewissenhaft annotierten und bestens zugänglichen Ausgabe vorliegen. Ein Muss für jeden Mahlerianer und eine nachdrückliche Empfehlung für jeden, der sich für die Lebensumstände der Jahrhundertwende interessiert.
Jörg Rothkamm