Roland Dippel

Chemnitz: Liebesnacht mit Revolver

„Tristan und Isolde“ an der Oper Chemnitz

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 1/2022 , Seite 47

Elisabeth Stöppler erhielt für ihre fulminante Götterdämmerung-Inszenierung 2019 am Opernhaus Chemnitz den Theaterpreis „Der Faust“. Die Pandemie unterbrach die Erfolgskette der Ring-Produktion von vier Regisseurinnen. Jetzt löste Stöpplers Inszenierung die alterszahme Tristan-Produktion von John Dew ab. Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo erweist sich am Pult der phänomenalen Robert-Schumann-Philharmonie als Meister der transparenten und dramatisch durchpulsten Klangrede. Stöppler bricht mit einem Axiom gläubiger Wagnerianer: Todessehnsucht ist nicht poetisch, sondern grausam und sebstzerstörerisch. Das ändert wenig an der Rauschwirkung von Wagners 1865 in München uraufgeführter Handlung in drei Aufzügen. Diese entfesselt der Chefdirigent des Teatro de la Zarzuela nicht durch Lautstärken, sondern durch Genauigkeit der instrumentalen Details mit einem vorbildlichen Artikulationsspielraum für das Sängerensemble. Unter García Calvos denkwürdiger Gestaltung singt die Robert-Schumann-Philharmonie schon den Tristan-Akkord am Beginn. Selten hört man so genau, was Wagner das Blech und die tiefen Streicher machen lässt. Die vielen Tremoli liefern ungesättigte Pastellfarben. Entfesselung holt García Calvo aus Melodien – klagenden, schmelzenden und vernichtenden. Weil so textverständlich deutlich gesungen wird, lassen sich Stöpplers unliebsame Einsichten noch schwerer widerlegen.
Schon das Ende des ersten Aufzugs gerät faszinierend: Immer quälender wird Isoldes Sicht auf die demütigenden Begleitumstände ihrer Verheiratung mit dem schwulen Marke – bis Tristans undurchdringlicher Psycho-Panzer sich in einem Tränensee löst. Isolde ist wild entschlossen zum physischen Seitensprung. Nur reden sie und Tristan ständig aneinander vorbei: Für ihn wäre Vereinigung nur als Doppelselbstmord denkbar. Seine Beziehung zum sorgfältig in ein Taschentuch gehüllten Revolver ist erotischer als die zu Isolde. Tristan fügt sich selbst den Schulterschuss zu. Am Ende singt Isolde den Liebestod für Marke mit – ihr erschütterndes Schluchzen übertönt Wagners Schlussakkorde. Das Orchester ist immer dicht dran an diesen physisch-psychischen Prankenschlägen. Bei Stöppler und García Calvo stimmen alle Proportionen. Nichts wirkt aufgesetzt, übertrieben oder fehlinterpretiert – der lange Abend wird zur kriminologisch zugespitzten Folge von Erkenntnissen über Eros und Thanatos.

 

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