Hiekel, Jörn Peter / Christian Utz (Hg.)
Lexikon Neue Musik
Die Publikation ist ein ambitionierter Versuch deutschsprachiger institutionalisierter Musikwissenschaft, das Panorama der Neuen Musik im Spiegel diverser Diskussionen und divergierender Tendenzen im Laufe des 20. Jahrhunderts zu präsentieren. Das Lexikon besteht aus drei Teilen: Auf neun thematische Aufsätze folgen 103 alphabetisch geordnete Sachartikel und ein Anhang, der Personen-, Werk- und Sachregister umfasst. Artikel über einzelne Werke und Komponisten finden keinen Platz. Entsprechende Informationen erscheinen vereinzelt sowohl im thematischen als auch im alphabetischen Teil. Diese Überschneidung von Inhalten führt allerdings zu Wiederholungen und Überexponieren einiger Ideen und Werke, gleichzeitig aber zu geringer Gewichtung von Schlüsselfiguren und Werken der Gegenwart.
In der breiten thematischen Palette des ersten Teils wird die Neue Musik aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Von fundamentaler Bedeutung für die Begründung der Geschichte Neuer Musik ist der Einführungsartikel von Ulrich Mosch Die Avantgarde der 1950er Jahre und ihre zentralen Diskussionen. In der Klarheit und Evidenz der von ihm dargestellten Zusammenhänge und neu gesetzten Akzente erkennt man den profunden Kenner der Neuen Musik. Wesentlich sind die Thesen Jörn Peter Hiekels über die Spiritualität und Beziehung zur Natur in der Neuen Musik. Auch die in den verschiedenen thematischen Teilen und Sachartikeln betrachteten theoretischen, analytischen und kompositionstechnischen Aspekte der Neuen Musik sind systematisch dargestellt.
Es ist schade, dass die einzelnen Musikkulturen im Sachregister positioniert sind, anstatt sie im Themencluster des ersten Teils einzubeziehen. So wäre insbesondere eine neuerliche Auseinandersetzung mit dem aus den Zeiten des Kalten Kriegs gebliebenen Begriff Osteuropa und den dazugehörigen veralteten Konzepten lohnend gewesen. Denn der Versuch, solche geografisch, historisch, soziokulturell, ethnisch, religiös und sprachlich voneinander entfernten Länder 26 Jahre nach der Wende als osteuropäische nur nach einem ideologischen Kriterium bzw. der repressiven Doktrin des sozialistischen Realismus zu klassifizieren, ist erklärungsbedürftig.
Ganz anders der facettenreiche Sachartikel Orchester von Emmanoil Vlitakis, der die paradigmatischen Eigenschaften der Neuen Musik unter dem Aspekt der Veränderungen im Bereich des Orchesterapparats, der neuen Instrumentaltechniken und der gesamten Konzertpraxis differenziert veranschaulicht. Anhand exemplarischer Schlüsselwerke der Nachkriegsavantgarde werden die neuen Klang- und Orchesterkonstellationen bzw. die Behandlung des Orchesters als globaler Klangkörper mit differenzierten Klangblöcken, Klangtexturen und -flächen wie auch die Ausprägung kleinerer solistischer und kammermusikalischer Klanggruppen detailliert geschildert. So lässt sich die Evolution der gegenwärtigen Kompositionspraxis insgesamt nachkonstruieren. Das ist auch das Ziel dieses breit angelegten Lexikons, das sich zugleich als Ideengeschichte im Bereich der Neuen Musik manifestiert.
Maria Kostakeva