Igor Stravinsky, Lili Boulanger, Nadia Boulanger und George Enescu

L’esprit du temps

Anastasia Feruleva (Violoncello), Frank van de Laar (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: TRPTK TTK 0060
erschienen in: das Orchester 09/2021 , Seite 89

Wie reizvoll wäre es, sich für einen Tag zurückbeamen lassen zu können in jenen Esprit du temps und zumindest einige musikalische Protagonisten des Zeitgeistes an diesem Tag leibhaftig zu treffen: in Paris, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Ob Igor Strawinsky und George Enescu einmal gemeinsam im Salon Boulanger aufgekreuzt sind, ist nicht verbürgt. Die vorliegende CD lädt posthum ein zu einer Begegnung der beiden genannten Meister mit den Töchtern des Komponisten und „Saloniers“ Ernest Boulanger: Nadia Boulanger wurde nachmals als Dirigentin und Pädagogin zu einer fast legendären Figur, komponierte jedoch nur wenig, darunter drei Pièces pour violoncelle et piano, die ein bemerkenswertes Spektrum von verhaltenen Debussysmen bis zum rasant-virtuosen, iberisch kolorierten Finale durchmessen.
Nadias Schwester Lili gewann 1913 als erste Frau den Prix de Rome, starb jedoch katastrophisch früh 1918, knapp fünfundzwanzigjährig. Ihre harmonisch avancierte, über die Welt ihres Mentors Fauré kongenial hinausweisende Komposition D’un soir triste ist in einer Orchester- und einer Klaviertrio-Version überliefert, eine skizzierte Fassung für Cello und Klavier wurde von Anastasia Feruleva und Frank van de Laar rekonstruiert und hier erstmals eingespielt.
Und die Herren? Neben Strawinskys Suite italienne, einem Destillat aus seinem Ballett Pulcinella, hören wir mit Enescus 1935 komponierter 2. Cellosonate ein echtes Hauptwerk der Gattung, das jedoch in seiner faszinierenden Sperrigkeit – von den immensen Anforderungen in puncto Zusammenspiel ganz zu schweigen – nie zu einem wirklichen Repertoirestück avancieren konnte. Sehr zu Unrecht! Zwar liegen nicht allein dem Finale – „à la roumaine“ –, sondern dem gesamten viersätzigen Werk volksmusikalische Erdschichten aus Enescus Heimat zu Grunde, dies jedoch in einem Abstraktionsgrad, der jenem der Musik Bartóks nahekommt.
Ein spannendes Programm, exzellent dargeboten von Anastasia Feruleva – einer 1992 geborenen russischen Cellistin, die in Den Haag und Berlin studiert hat, zu den Preisträgerinnen der Cello-Biennale 2016 gehört und am Beginn einer internationalen Karriere steht – und Frank van de Laar, seit Langem renommiert als Professor in Amsterdam, Solist und Kammermusiker. Das Spiel des Duos besticht durch perfektes Miteinander von hoher Intensität und intelligenter Phrasierung. Trotz einiger heftiger pianistischer „Prankengriffe“ in der Suite italienne ist die Balance zwischen den beiden Instrumenten nie ernsthaft gefährdet. Ferulevas dunkel timbriertes, zumal auf den tiefen Saiten mit herrlichen Klangfarben aufwartendes Cello des Niederländers Pieter Rombout kann seine Individualität frei entfalten, subtil eingebettet durch van de Laars großen, doch nie metallischen Klavierklang.
Offenbar hält sich das verantwortliche Label einiges zugute auf seine Aufnahmetechnik. Eineinhalb Booklet-Seiten zu diesem Thema, dafür keinerlei Informationen zu den Ausführenden – bedauerlich.
Gerhard Anders