Pécour, Thierry

Les Rameurs obscurs de la barque de Rê

pour quatuor à cordes et séquences préenregistrées ad lib., Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2015
erschienen in: das Orchester 03/2016 , Seite 71

Zart gewebt ist die Musik, die den Sonnengott auf seiner Reise begleitet. Wovon erzählt sie? Vom Plätschern der Nilwellen, vom Glitzern des nächtlichen Sternenhimmels? Vielleicht. Doch Thierry Pécous Stück behandelt die nächtliche Fahrt des ägyptischen Sonnengottes Ra so wenig naturalistisch, wie es Debussy in seinem Prélude à l’après-midi d’un faune tat. Von dem meinte ein Kritiker, es sei „vielleicht das, was in der Flöte vom Traum des Fauns zurückgeblieben ist“. Auch Pécou versenkt sich in die Mythologie, in eine magische Szenerie aus dem altägyptischen Totenbuch: Wenn die Sonne untergegangen ist, besteigt Ra mit seinem Gefolge eine Barke und beginnt eine Fahrt auf dem Nil. An ihrem Ende ist die Sonne wieder an den Ort ihres Aufgangs zurückgekehrt.
Wie Debussy ist Pécou weniger an strukturellen Entwicklungen interessiert als an Farben, Nuancen, Stimmungen. Les Rameurs obscurs de la barque de Rê (Die dunklen Ruderer der Barke des Ra) entstand 2010 als Auftragswerk des French-American Fund for Contemporary Music (FACE) für das Kronos Quartet. Die Idee jedoch geht auf David Harrington zurück, erster Geiger und Gründungsmitglied des Ensembles. „Ich folgte seinem Vorschlag“, wird Pécou im Vorwort zur Partitur zitiert, „zu versuchen […], ein imaginatives Eintauchen in die multiplen Facetten Ägyptens und Kairos darzustellen.“
Thierry Pécou, 1965 in Boulogne-Billancourt vor den Toren von Paris geboren, beschreitet einen eigenen Weg, der jenseits von avantgardistischem oder postmodernem Komponieren liegt. An der Pariser Hochschule für Musik studierte er Komposition, doch sein Denken spielt sich nicht im Horizont westlicher Ästhetik ab. Vielmehr möchte er vergangenen und verdrängten Kulturen wieder eine Stimme geben. In der Symphonie du Jaguar werden Texte der Maya-Kultur vor einem orchestralen Hintergrund gesungen, in Tremendum beschwört er die dunklen Mächte des Karnevals in Brasilien. Andere Stücke wenden sich der Amazonas-Kultur zu (Passeurs d’eau), den Mythen der Inuit (Nanook-Trio) oder den Gesängen sephardischer Juden (Sefarad’s).
Pécou wechselt im Verlauf des rund 25 Minuten dauernden Streichquartetts zwischen verschiedenen Atmosphären, zugleich auch zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die entrückte Stimmung des Beginns weicht kraftvoller, wilder Musik, dann dominieren orientalische Melismen, später wirbeln Staccati wie Funken umher oder die Musik pulsiert, als wolle sie Bartók eine Reverenz erweisen. An festgelegten Stellen erklingen kurze Sequenzen aus elektronisch bearbeiteten Originaltonaufnahmen (Straßenlärm, Caféhausmusik, Priestergesänge, Percussionklänge). Sie können mit einem Code, der in der Partitur verzeichnet ist, auf der Internetseite des Verlags abgerufen werden. Les Rameurs endet mit einem „Eblouissement“, einer „Blendung“, aus strahlenden Akkordflächen. Ra hat seine Reise beendet, die Sonne geht auf, ein neuer Tag kann beginnen.
Mathias Nofze