François Couperin
Les Nations
Les Talens Lyriques, Ltg. Christophe Rousset
Couperin wagte 1762 mit Les Nations einen Blick über die Grenzen seines Landes. Dabei war das absolutistische Frankreich des 18. Jahrhunderts politisch und kulturell die führende Macht in Europa. Seine höfische Kultur wurde auf dem gesamten Kontinent verehrt und nachgeahmt. Insofern spiegelt der Titel dieses Zyklus eine politische Entwicklung voraus, die nach der französischen Revolution in Gang kommen und seitdem nicht mehr verebben sollte: die Nationalisierung Europas.
Couperin hat Kammermusik für Ludwig XIV. komponiert, sehr private Musik im Gegensatz etwa zu den Repräsentationsmusiken seiner Zeitgenossen Lully oder Rameau. So liegt sein Schwerpunkt auch auf der Musik für Tasteninstrumente. Insbesondere für das Cembalo hat er zahlreiche bis heute viel gespielte Werke geschrieben, Orchestermusik im eigentlichen Sinne ist von ihm nicht überliefert. Dem innigen Charakter trägt Christoph Rousset mit seinem Ensemble Les Talens Lyriques schon durch die sparsame Besetzung mit zwei Instrumenten pro Stimme Rechnung.
Wie auch für seine Cembalo-Suiten verwendet Couperin für die vier Teile des Instrumentalzyklus quasi-programmatische Überschriften: „La Françoise“, „L’Espagnole“, „L’Imperiale“ und „La Piémontoise“. Die erst hundert Jahre später entstehenden Nationalstaaten Deutschland und Italien werden noch umschrieben. Die so betitelten Teile sind keine in sich abgeschlossenen „nationalen“ Stilübungen, sondern sie kommen auf den ersten Blick in einem einheitlichen traditionellen „Kleid“ daher. Eine Suite, wie sie als Tanzfolge in Frankreich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Gebrauch fand, bildet die Außenhaut. Im Inneren entfaltet sich dann eine sehr subtile Kombinationen von Stilen. Der italienische Stil zeigt sich etwa in den ernsten Eingangssätzen, koloriert durch eine expressive Chromatik. Überhaupt wird jeder Teil des Zyklus durch eine italienische Sonata eingeleitet. Die Gigues aus „La Piémontoise“, aber auch aus „La Françoise“, weisen stilistische Ähnlichkeiten mit Orchestersätzen von Corelli auf. Der „L’Imperiale“ überschriebene Teil endet hingegen mit fugierten Abschnitten im letzten Satz. Die frische Erinnerung an Bach als Vertreter der damals zwar als veraltet empfundenen, dennoch sehr kunstvoll ausgearbeiteten Polyfonie im mitteldeutschen Raum spielte hier sicherlich eine Rolle.
Jordi Savalls Referenzaufnahme mit Hesperion XX aus dem Jahr 1983 hat einen würdigen Nachfolger bekommen durch diese klanglich hervorragend ausbalancierte und stilistisch sehr genau ausgeführte Einspielung.
Das Booklet zur CD enthält – neben einer Auflistung der Tracks und einem kurzen informierenden Text in französischer und englischer Sprache – auf der Innenseite eine Landkarte, die der Historie vorgreift. Sie zeigt die europäischen Nationen in der Gestalt, wie sie mehr als hundert Jahre nach Couperins Les Nations den Kontinent prägen sollten. Ob Zufall oder Absicht: Couperins Instrumentalmusik galanten Stils jedenfalls war vom 19. Jahrhundert doch noch ein hörbares Stück entfernt.
Karim Hassan