Mozart, Wolfgang Amadeus

Les Mystères d’Isis

Flemish Radio Choir, Le Concert Spirituel, Ltg. Diego Fasolis

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Glossa GCD 921630
erschienen in: das Orchester 05/2016 , Seite 71

In der Bearbeitung der Zauberflöte für die Erstaufführung 1801 am Pariser Théâtre de la République et des Arts erkennt man kein musikdramaturgisches System. Zur Entdeckung dieses unerhört spannenden Schritts europäischer Mozart-Rezeption lädt Diego Fasoli ein mit Le concert spirituel. Étienne Morel de Chédeville (1751-1814) paraphrasierte Schikaneders Textbuch für ein Pasticcio, das Ludwig Wenzel Lachnith (1746-1820) zu 99 Prozent aus Mozarts Musik zusammenbaute. Ergebnis war ein stilistisches und dramatisches Update, wie man es in Deutschland aus schlechtem Goethe-Gewissen an Thomas’ Mignon vornahm oder Webers Oberon von der mondänen Londoner Revue zur Biedermeier-Zauberoper machte. Immerhin: Zehn Jahre nach Mozarts Tod, achtzehn Jahre vor der Pariser Erstaufführung in annähernder Originalgestalt durch Joseph August Röckel, war Les Mystères d’Isis mit 71 Vorstellungen bis 1810 das meistgespielte Stück.
Die Veränderungen dieser Bearbeitung fokussieren Symmetrien stärker als das Original. Säulen der Werkarchitektur sind antikisierender Sakralton, idyllisches Pastoralkolorit und Deklamation à la Gluck. Die Sphären der Priester und ihrer Kontrahentinnen sind bereits mit Beginn polarisiert und nicht erst durch den Perspektivenwechsel im ersten Finale: Der erste von vier Aufzügen beginnt bei Sarastro (hier: Zarastro) und springt erst dann in den zum Beginn der Zauberflöte parallelen Szenenblock im Reich der Königin der Nacht (Myrène). Deren Rollenumfang ist vergrößert, anstelle der beiden Soprankoloraturarien rutscht der Part in Mezzo-Lage. Die Myrène zugeteilten Soli sind die erste Donn’Anna-Arie und Vitellias Rondo aus La clemenza di Tito. Papagena (hier Mona) erhält als Gefährtin Paminas gleiche Bedeutung wie Papageno (Bochoris). Der Genrewechsel manifestiert sich in der Vergrößerung des ersten Quintetts der drei Damen mit Tamino und Papageno zum Finalsatz mit Chor. Don Giovannis Champagnerarie wird zum Terzett, das bereits Rossinis Esprit ahnen lässt. Die endlose Reihe von Abwandlungen und Parodien ist für heutige Hörer überraschend, hat aber auch beträchtliches Unterhaltungsformat.
Der Theatersaal, für den dieses Pasticcio entstand, fasste 2800 Plätze. Damit ist viel gesagt: Diego Fasolis erzeugt mit den 50 Musikern einen dichten Streicherklang (zehn erste Violinen) und gedeckte Bläserfarben. Die Soli sind sehr idiomatisch besetzt, die Ergebnisse des enormen Gestaltungswillens mit Ehrgeiz zu stilistischer Authentizität machen Lust auf weitere ähnliche Entdeckungen. Das Ensemble mit dem 32-köpfigen Flemish Radio Choir konturiert und phrasiert alle Interpretationsvorgaben in scharfer Unterscheidung zu Mozarts Original.
Mit Recht, Lachniths Fassung trägt nicht nur als Beitrag zum napoleonischen Ägypten-Boom den Namen Die Geheimnisse der Isis: Eine Zauberflöte gibt es da nicht und der Schäfer Bochoris hat keine Vögel. So ist es konsequent, dass Flöten in Lachniths Orchestersatz längst nicht so variantenreich zum Einsatz kommen wie in Mozarts Partitur für das (Vorstadt-) Theater auf der Wieden. Die Ankündigung auf dem Plakat dort als „Große Oper“ war ein Werbegag, für die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ wurde Die Zauberflöte zum „drame héroique et lamoryant“.
Roland H. Dippel