Ysaÿe, Eugène

Les Furies/Sojuchameleon

Viktoria Elisabeth Kaunzner (Violine)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler Classics CD HC16086
erschienen in: das Orchester 09/2017 , Seite 77

Kaum ein Geiger würde auf die Idee kommen, Paganinis 24 Capricen an einem Abend geschlossen aufzuführen; die Gefahr der „Ermüdung“ des Solisten und/oder der Zuhörer durch die geballten technischen Höchstleistungen wäre wohl nicht zu vermeiden. Ebenso wenig findet man Eugène Ysaÿes sechs Sonaten für Violine solo als kompletten Zyklus auf einem Konzertprogramm – obwohl gerade dieses halbe Dutzend Werke, die der Komponist berühmten Streicherkollegen gewidmet hat, in ihrer Art, Struktur und Ausgestaltung so unterschiedlich, so kaleidoskopisch aufgefächert und so vieldimensional angelegt sind, dass es weder dem Hörer noch dem Interpreten je langweilig werden dürfte. Virtuose Eintönigkeit, und das ist der wesentliche Verdienst von Ysaÿe, ist hier einfach von vornherein ausgeschlossen.
Die ungeheure Tiefe dieser sechs jeweils mehrteiligen bzw. -sätzigen Sonaten mag auch der Grund dafür sein, dass man (fast) jeder weiteren Plattenveröffentlichung noch neue musikalische Erkenntnisse abzugewinnen vermag. So auch Viktoria Kaunzners 2016 entstandener Aufnahme, die zunächst einmal durch einen makellosen Instrumental- und Raumklang und ein ebenso ungetrübtes, perfekt intonierendes Spiel überzeugt. Kaunzners Thema ist nicht die virtuose Effekthascherei oder gar die geigerische Raserei. Selbst im Allegro furioso überschriebenen Schlusssatz der zweiten Sonate, der mit seinem Titel Les Furies auch gleichzeitig Namensgeber der gesamten CD ist, bleibt das Spiel stets unter vorbildlicher Kontrolle. Klarheit und Struktur sind Kaunzner höhere Werte als virtuose Schau.
Ein klein wenig in den Hintergrund gerückt wird in der hier dokumentierten Sicht auf Eugène Ysaÿes Meisterwerke das instrumentale Geschichtenerzählen, was bei einer Aufnahme, die immer auch ein wenig Referenzcharakter hat, eher zu verschmerzen ist als im Konzertsaal. Zumal die Solistin in einem ausführlichen, mit vielen Hintergrundinformationen aufwartenden Begleitheft die von ihr interpretierten „Geschichten“ zu den sechs Violinsolosonaten quasi nachliefert – in Form von selbstverfassten Gedichten, die Bezug nehmen auf den jeweiligen Widmungsträger, den Charakter der Stücke oder auch den Notentext selbst. Man muss eine solch ungewöhnliche Form der Kommentierung nicht zielführend zum tieferen musikalischen Verständnis der eingespielten Werke finden – der überzeugenden Klarheit von Viktoria Kaunzners Violinspiel hingegen scheint sie nicht geschadet zu haben.
Als „Zugabe“ zu Ysaÿes sechs Sonaten, die ihrerseits ja oft der Zugaben-Schlusspunkt eines Virtuosenauftritts sind, hat Kaunzner ein eigenes Stück ans Ende ihrer CD-Einspielung gestellt: Ihr Sojuchameleon ist eine überdrehte musikalische Satire, in der sich zum Klang der Ex-David-Guarneri-Violine Alltagsklänge hinzugesellen. Hier erzählt Viktoria Kaunzner dann mit Violine und Tonband eine Geschichte, die erstaunlich gut zu den fast ein Jahrhundert früher entstanden Werken von Eugène Ysaÿe passt.
Daniel Knödler