Cott, Jonathan

Leonard Bernstein

Kein Tag ohne Musik

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. Bertelsmann, München 2012
erschienen in: das Orchester 12/2012 , Seite 62

Ein Interview in 8000 Wörtern sollte es werden. Dass es das letzte Interview mit dem Maestro sein sollte, konnte man höchstens fürchten. Ein Buch mit rund 45000 Wörtern ist es geworden. Ein schönes Buch in einem wunderbaren grauen Einband mit einem Foto, das Leonard Bernstein in seiner vielleicht typischsten Pose zeigt: inbrünstig, die Augen geschlossen, das Gesicht gen Himmel gehoben, die Musik umarmend am
Dirigierpult. Aber: Schon wieder ein Buch über Bernstein! Werden wir hier neue Informationen über einen der Größten des 20. Jahrhunderts erhalten, über den so viele schon so vieles geschrieben haben?
Schade, dass die gelungene musikalische Kapitelbezeichnung nicht durchgehalten wird, das „Dinner“ will sich nicht so recht positionieren zwischen “Präludium” und “Postludium”. Einlesen muss man sich, denn die Vielzahl an Fakten, Begegnungen, Erzählungen, Berichten entbehrt einer gewissen Chronologie. Lebendig indes ist es allemal, man hat geradezu das Gefühl, selbst dem Gastgeber Bernstein beim Interview, das während eines privaten Abendessens geführt wurde, gegenüberzusitzen, so präsent, aus dem Leben gegriffen sind Fragen und Antworten.
Dem Autor und Redakteur Jonathan Cott mag man vorhalten, dass auch er nicht umhin kann, Bernstein als Universalgenie auftreten zu lassen, in seiner Selbstverständlichkeit und Makellosigkeit (abgesehen vielleicht von seiner Nikotinsucht) imponierend, natürlich als Instrumentalist, Komponist, Dirigent, weltweit tätig und gereist, Kenner scheinbar aller Werke der klassischen und der Pop-Musik und vieler der Literatur, be-
sonders der Lyrik – auswendig rezitiert er in Gänze u.a. John Keats.
Dennoch ist es Cott, der sich durch umfassende Bildung auszeichnet, mit seinem Gespür für den richtigen Moment und die richtigen Worte gelungen, eine ungeahnte Fülle von Anekdoten und Zusammenhängen zu erfragen und lebensnah, überzeugend darzubieten – unschätzbarer Vorteil eines Interviews, dem (fast) keine Biografie standzuhalten vermag.
Bernstein begegnet uns hier als Musiker, der zu verstehen versucht, warum ein indischer Kollege Mozarts Musik als “Babymusik” bezeichnet, und der begründet, warum es heute keinen Mozart mehr gibt; er begegnet uns als Intellektueller, der scharfsinnig und humorvoll von Glenn Goulds Brahms-Konzert und von Vladimir Horowitz plaudert; er begegnet uns als Prophet, der lange die Karriere von Marin Alsop vorausgesagt hat, die seit 2007 das Baltimore Symphony Orchestra und damit als erste Frau ein großes (amerikanisches) Orchster leitet; er begegnet uns als Pädagoge, der die Heilwirkung von Musik und Richard Strauss’ Œuvre als „Superman-Musik“ erklärt; er begegnet uns als Politischer, der die “Monster”-Plattenfirmen und die Kürzungen der Kulturförderung beanstandet; und er begegnet uns als Mensch, der von seinen Frauen- und Männerlieben und immer wieder begeistert und begeisternd von Kindern spricht. Es gibt eigentlich kein Stichwort, das es nicht gibt. Ein schönes Buch.
Carola Kessler