Riehm, Rolf

Lenz in Moskau / Im Nachtigallental / Ton für Ton (Weiße Straßen Babylons) / Au bord d’une source

Erik Borgir (Violoncello), Theo Nabicht (Kontrabassklarinette), Jeremias Schwarzer (Tenorblockflöte), Ensemble Ascolta, hr-Sinfonieorchester, Ltg. Sian Edwards

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Wergo WER 7314 2
erschienen in: das Orchester 04/2015 , Seite 80

Rolf Riehms Markenzeichen waren und sind immer wieder eigenwillige Instrumentierungen, und er bleibt auch auf dieser CD seinem Ideenkonzept treu: Wo gäbe es schon mal ein Solostück für Kontrabassklarinette oder einen Solopart für eine Tenorblockflöte?
Mit Lenz in Moskau ist missverständlich nicht etwa eine phänotypische Moskowiter Frühlings-Variation gemeint. Vielmehr handelt es sich um eine Reminiszenz an den von Georg Büchner literarisch thematisierten und von Goethe in seinen Notizen bespöttelten schizophrenen Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der schließlich in Moskau tragisch ums Leben kam. Riehms Intention dabei ist es, des Dichters „Herausfallen aus der Ordnung der Dinge“ sich musikalisch vollziehen zu lassen. Dazu bedient er sich eindrucksvoll einer Montage aus verschiedenen Instrumenten, Zuspielung und zwei Sprechstimmen, die den Musikern an Aufmerksamkeit und Instrumentenbeherrschung das Äußerste abverlangt.
Im Nachtigallental fügt dem Orpheus-Mythos eine weitere Ausdeutung hinzu, indem er den abgeschlagenen und auf seine Lyra genagelten Kopf des Orpheus weitersingen lässt und damit die einst verstummten Nachtigallen bewegt, ihre Gesänge wieder aufzunehmen. Die ganze Geschichte lässt Riehm vom Cello erzählen, wobei dieses alle Rollen zu bedienen hat: Es ist der Fluss, der Kopf, das Meer, die Gegend und die jeweilige Stimmung. Ein höchst anspruchsvolles Werk für Solo-Cello, das von Erik Borgir überlegen gemeistert wird.
Die Komposition Ton für Ton (Weiße Straßen Babylons) ist dann wieder ein Werk des politischen Komponisten Riehm, mit dem dieser auf seine Art zum Vernichtungskrieg im Irak Stellung nimmt. Die Kontrabassklarinette zeichnet das psychologische Widerbild dieser Zerstörung in frappierender Weise, und auch hier sei dem Solisten für den souveränen Umgang mit diesem spieltechnisch extrem schwierigen Werk höchstes Lob gezollt.
Assoziativ auf Franz Liszts Am Rande einer Quelle (aus den Années de pèlerinage) bezieht sich Rolf Riehm in der letzten der auf dieser CD eingespielten Kompositionen, wobei er das uralte Holzblasinstrument, die Flöte, dem hier nur virtuell vorhandenen Liszt’schen Klavier einerseits, dem tatsächlich agierenden massigen Orchesterapparat andererseits entgegensetzt, wobei auch auf literarische Spracheinblendungen nicht verzichtet wird. Für mich das anspruchsvollste dieser durchweg anspruchsvollen Stücke! Die  hr-Sinfoniker agieren unter der britischen Dirigentin Sian Edwards mit äußerster Präzision.
Eine unabdingbare Voraussetzung für die Rezeption zeitgenössischer Musik ist die Nachvollziehbarkeit der Kompositionen durch den Hörer. Hier lassen die erläuternden Texte im Beiheft erfreulicherweise keine Wünsche offen.
Friedemann Kluge