Antonín Rejcha

Lenore

Martina Janková (Sopran), Pavla Vykopalová (Sopran), Wojciech Parchem (Tenor), Jiří Brückler (Bariton), Czech Philharmonic Choir und Filharmonie Brno, Ltg. Dennis Russell Davies

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Filharmonie Brno FB001-2, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 74

Antonín Rejcha (1770-1836) gehört zu den großen unterschätzten Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts. Den Freunden der Musiktheorie ist der gebürtige Böhme und vielseitig begabte Intellektuelle als Lehrer von Berlioz, Gounod, César Franck, Liszt und anderen musikalischen Größen in Paris bekannt. Bläser schätzen ihn wegen seiner wunderbaren 25 Bläserquintette und der virtuosen Horntrios, von denen eines schöner als das andere ist. Gerade sein vokalsinfonisches Werk führt indes ein Nischendasein, nicht zuletzt aufgrund der politischen Situation in seiner Zeit.
Lenore, ein „großes musikalisches Tableau“ von 1805/06 auf einen Text von Gottfried August Bürger, entstand im Wien der Restauration, durfte dort aber nicht aufgeführt werden, weil der humanistische Text den Machthabern nicht genehm war: Im volkstümlichen Sujet, das Bürger 1773 aufgeschrieben hat, wartet ein junges Mädchen auf den Geliebten, der im Krieg ist; vergeblich versucht die Mutter, ihr die Hoffnung zu nehmen. Als der Jüngling zurückkehrt, entspinnt sich ein leidenschaftlicher Dialog, den das Mädchen freilich mit einem Toten führt. Der Geist des geliebten Heinrich nimmt seine Lenore am Ende mit in die Unterwelt. Kriegsverdruss, Sturm und Drang und romantische Mystik fließen zusammen zu einem groß angelegten Werk, das Rejcha als Mischung aus Kantate und Oratorium mit opernhaften Aspekten vertont hat.
Der Komponist nahm einen zweiten Anlauf, um seine Lenore aufzuführen, diesmal in Leipzig. Doch am Vorabend des Konzerts marschierten napoleonische Truppen ein. Erst 1984 (!) kam eine Aufführung im Prager Rudolfinum zustande, die wohl als Uraufführung gelten kann. Interessant, dass das Werk seither zwar nicht häufig, aber doch mehrfach aufgenommen wurde, zuletzt 2016 von den Virtuosi di Praga mit Frieder Bernius. Die vorliegende Einspielung entstand 2020 aus Anlass des 250. Geburtstags des Komponisten. Dennis Russell Davies leitet die Philharmonie und den Philharmonischen Chor aus Brünn.
Musikalisch sind zwar die Einflüsse Haydns und das Erbe der Klassik sehr präsent, die psychologische Ausgestaltung der Figuren, die Naturmalerei, der Furor und das dunkle Weben im Kontrast zu volkstümlicher Melodik sind jedoch für ihre Zeit sehr innovativ. Die Klangwelt Carl Maria von Webers ist nahe. Auch Beethoven, den Rejcha persönlich gut kannte, ist sehr präsent. Wobei diese Vergleiche die Eigenständigkeit des Werks keineswegs einschränken sollen, das satztechnisch selbstredend exzellent ist.
Den Ensembles der Brünner Philharmonie ist unter dem Dirigat von Chefdirigent Dennis Russell Davies eine transparente Aufnahme gelungen, die sich durch einen weichen Klang über alle Register hinweg auszeichnet, durch einen schlank disziplinierten Chorklang. Die Solisten stehen in nichts nach, lassen manchmal nur leichte Reserven in der Aussprache des deutschen Texts erkennen. Eine exzellente Möglichkeit, Antonín Rejcha zu entdecken.
Johannes Killyen