Roland Dippel

Leipzig: Besserungsmärchen am Bahnsteig

Die Musikalische Komödie präsentierte eine Winterrevue von Carsten Süss

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 52

Eine Revue ist immer auch die Verzauberung durch Bekanntes. So ersann der Tenor Carsten Süss während der Pandemie für die Musikalische Komödie Leipzig ein Sujet mit erkennbaren Versatzstücken. Das hat Tempo, Poesie und Moral. Mit Verspätung ins Glück – Eine Winterrevue wurde zur umjubelten Weihnachtssause für die ganze Familie. Nur Roland Seiffarth, Ehrendirigent des Hauses im Leipziger Westen, und Erwin Leister, dessen ehemaliger Oberspielleiter, werden sich bei der Premiere erinnert haben, dass bereits in Herbert Kawans DDR-Operette Treffpunkt Herz (1951) ein Bahnhof zum Schauplatz eines Besserungsmärchens geworden war. Bei Süss kippt der Bahnbetrieb von Frosthausen aus der eisigen Bahn-Realität in einen Traum des Protagonisten Max Habermann. Bei dieser Verdopplung von Personal und Passagieren denkt man natürlich an Paul Linckes Operette Frau Luna. Wie Süss schlägt der Regisseur Ansgar Weigner Glücksfunken aus dem souveränen Ensemble.
Zentrale Figur ist der von allen im Turbo­kapitalismus wünschenswerten Geschäftstugenden befeuerte Max. Tenor Jeffery Krueger modelliert ihn eher smart als hart und gekonnt nervig. Am Ende begegnet Max in einem naseweisen Jungen seiner eigenen früheren Identität. Wie in Charles Dickens’ Weihnachtsabend ereignet sich im von Ausstattungsleiter Frank Schmutzler mit realistischen und fantastischen Elementen versehenen Bühnenraum ein Läuterungsmysterium. Robert Schrag lieferte textile Pointen mit hohem Schauwert. In dieser Verpackung kommen die Vorzüge des von Tobias Wolff, dem seit Beginn der Spielzeit 2022/23 amtierenden Intendanten der Oper Leipzig, ohne wesentliche Personalumbrüche genutzten Ensemblepotenzials zur optimalen Geltung. Angela Mehling gibt die sich den Karriere-Abwärtsflug schöntrinkende Diva Selma Söderbergh und die Kalte Kaiserin in Max’ Traum.
Weigner und Süss wuchteten einige feine Fahrgast-Physiognomien auf die Bühne – zum Beispiel das aus alpinen Regionen stammende Ehepaar Sedlacek (Michael Raschle und Mirjam Neururer), den aus alter Operettenseligkeit hereingeschneiten Heinrich von Plitznitz (Andreas Rainer) und die sich in Passagierin-Wartestellung befindliche Ex-Beziehung von Max (Nora Lentner). Sabine Töpfer ist als Fräulein Eisig die Königin des Bahnsteig-Milieus und Servicebremse, wobei die Verkehrsverzögerungen im Vergleich zu realen Bahnkapriolen recht harmlos bleiben. Die pantomimische Schwerelosigkeit des Service-Duos an den Gleisen und Wartepunkten gelingt Ballettdirektor Mirko Mahr besser als die Ensembleszenen.
Der musikalische Bogen spannt sich zwischen Prokofieffs Marsch aus Die Liebe zu den drei Orangen und Carl Orffs Fortuna-Chor aus Carmina burana. Vor allem aus dem Songrepertoire des 2021 verstorbenen Song- und Filmkomponisten Leslie Bricusse (Victor/Victoria, The Muppet Show, The Simpsons) richtete Dirigent Christoph-Johannes Eichhorn das Material ein. Orchester und Chor (Einstudierung: Mathias Drechsler) der Musikalischen Komödie haben sich die verbesserten akustischen Bedingungen des sanierten Zuschauerraums inzwischen erschlossen. Das Sound-Fluidum wirkt hell, transparent, frisch und hat – das ist neu – mehr pfiffig anschmiegsames als gepfeffertes Temperament. Bei der Nachmittagsvorstellung am dritten Advent, in der Jannik Harneit als die Öko-Apokalypse predigender Ingo Schuster für den erkrankten Vikrant Subramanian einsprang, wurde der versierte Mix aus dramaturgischem Recycling und theatraler Leuchtkraft bejubelt. Die Publikumsbeglückung gelang vollkommen.