Zuzana Růžičková

Lebensfuge

Wie Bachs Musik mir half zu überleben

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Propyläen, Berlin
erschienen in: das Orchester 01/2020 , Seite 63

Auch nach 30 Jahren ist die umfangreiche Wiederentdeckung der musikalischen Aktivitäten in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz längst noch nicht abgeschlossen. Die neueste Publikation in diesem Kontext ist die fast zeitgleich auf Englisch (One Hundred Miracles. A Memoir of Music and Survival) und Deutsch erschienene Autobiografie der 2017 hochbetagt verstorbenen tschechischen Cembalistin Zuzana Růžičková, die als Jugendliche nicht nur vier Konzentrations- und Arbeitslager – neben den bereits genannten noch Hamburg und Bergen-Belsen – überlebte, sondern nach dem Krieg die Negierung des Holocaust im Ostblock als Konsequenz eines nicht nur dort in Kontinuität weiter existierenden Antisemitismus zu erdulden hatte und dies aus der Perspektive einer trotz der damit verbundenen Repressalien dennoch zu Weltruhm gelangten Künstlerin beschreibt. Die mehr als beklemmenden Schilderungen der Lageraufenthalte sind dabei zwischen die Kapitel der „übrigen“ Biografie eingeschoben – wie ein Schatten, der sich über die anderen Lebensabschnitte legt.
Zur Lebensfuge – als deutscher Buchtitel kontradiktorisch zur berühmten Todesfuge von Celan zu lesen – wird in den dunklen Zeiten zweier Diktaturen die Musik Bachs, insbesondere die Sarabande e-Moll aus der 5. Englischen Suite. Beim erzwungenen Abschied aus Pilsen ist es das zuletzt musizierte Stück, beim Transport von Theresienstadt nach Auschwitz nur noch ein hastig auf einen Zettel gekritzeltes Thema. Die in Auschwitz offenbar unablässig zur Unterhaltung der SS gespielte Marinarella von Julius Fučík wird dagegen zum „meistgehassten“ Stück.
Dass dann der Eiserne Vorhang der Nachkriegszeit durch die erzwungene Präferenz für bestimmte Cembalo-Modelle auch die damals noch junge Alte-Musik-Bewegung Europa in Ost und West zu spalten wusste, liest sich als ebenso merkwürdige Konsequenz wie die Teilung ihrer von der Obrigkeit beschränkten Westkarriere mit derjenigen ihres Ehemanns, des Komponisten Viktor Kalabis: Immer nur einer von beiden durfte nach Paris, Zürich oder England auf Reisen gehen, 80 Prozent der Gagen verblieben beim kommunistischen Staat.
Diese aus großem Abstand fast ohne Bitterkeit versöhnende, empathisch und klug reflektierende Autobiografie wurde von Wendy Holden, die als Mitarbeiterin genannt ist, aus kurz vor ihrem Tod mit Zuzana Růžičková geführten Interviews und älterem Material posthum kompiliert, Ton- und Video­dokumente hiervon und von Růžičkovás Cembalospiel sind unter anderem bei YouTube hochgeladen.
Die sich an manchen Stellen aufdrängenden Nachfragen waren somit nicht mehr möglich. Theresienstadt-Kenner hätte z.B. interessiert, warum unter den dort inhaftierten Komponisten nur Gideon Klein und Hans Krása, nicht aber Viktor Ullmann erwähnt ist. Einige offensichtliche Fehler auch in musikalischen Sachverhalten könnten in Folgeauflagen nachkorrigiert werden – sie sind diesem äußerst lesenswerten Buch zu wünschen.
Andreas Krause