Barschai, Rudolf

Leben in Zwei Welten: Moskaus Goldene Ära und Emigration in den Westen

aufgezeichnet und herausgegeben von Bernd Feuchtner

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wolke Verlag, Hofheim im Taunus 2015
erschienen in: das Orchester 02/2016 , Seite 65

Der 2010 verstorbene Viola-Solist und Dirigent Rudolf Barschai ist heute fast vergessen. Dabei gehörte er als Bratschist zu den ganz Großen, musizierte zusammen mit Igor Oistrach, Swjatoslaw Richter, Mstislaw Rostropowitsch und Leonid Kogan, war Mitbegründer des Borodin-Quartetts und gründete das Moskauer Kammerorchester, mit dem er im Westen Triumphe feierte. Als Dirigent war er einer der bedeutendsten Interpreten der Musik von Dmitri Schostakowitsch, dessen Schüler er gewesen war. Doch auch seine Aufführungen der Symphonien von Gustav Mahler setzten Maßstäbe. Ebenso trat er als Bearbeiter hervor; so schuf er von Schostakowitchs 8. Streichquartett eine Fassung für Kammerorchester, die der Komponist in sein Werkverzeichnis aufnahm.
Bernd Feuchtner hat Gespräche mit Rudolf Barschai aufgezeichnet und sie zu einer sehr authentisch wirkenden Lebenserzählung zusammengefügt. Barschai stammt mütterlicherseits aus einer Kosakenfamilie, väterlicherseits aus einer jüdischen Familie. Die Eltern leiden während seiner Jugend unter ständiger Verfolgung. Als er in Kalinin eine Pianistin die „Mondscheinsonate“ spielen hört, beschließt er Musiker zu werden. Sein Vater kauft ihm eine Geige, da dies billiger als ein Klavier ist. Er übt nun Tag und Nacht und macht gute Fortschritte. Doch er ist bereits dreizehn, als er mit der Geige anfängt, hat in der Schule hervorragende Noten, weshalb ihm die Lehrer abraten, aus der Musik einen Beruf zu machen. Aber Barschai lässt sich nicht beirren. Schließlich studiert er bei Lew Zeitlin, macht eine Karriere als Bratschist und entwickelt sich zum Dirigenten, der es schließlich in der geistig engen und unfreien Sowjetunion nicht mehr aushält und 1977 in den Westen emigriert, wo er das Israel Chamber Orchestra, dann das Bournemouth Symphony Orchestra leitet und Gastdirigent zahlreicher anderer Orchester ist.
Neben dieser Lebensgeschichte bietet das Buch vertiefende Artikel über das Moskauer Konservatoriun, die in den 1950er Jahren in Moskau wirkenden Orchester, Dirigenten und Solisten, das staatliche Überwachungssystem, sehr persönliche Begegnungen mit Schostakowitsch und Prokofjew, bei uns kaum bekannte Komponisten wie Alexander Lokschin oder Revol Bunin sowie über die Praxis des Dirigierens und der Artikulation. Im Anhang sind Briefe und eine Diskografie abgedruckt.
Bernd Feuchtner gelang es, aus seinen Gesprächen mit Rudolf Barschai eine flüssig und spannend zu lesende Lebensgeschichte zusammenzustellen, die gleichermaßen die Persönlichkeit des Musikers und die Zeit, in der er lebte, vergegenwärtigt. Diese „Oral History“, die über die große Zeit der russischen Musik, aber auch über Verfolgung, Überwachung und Flucht in den Westen berichtet, ist eine wichtige und bewegende Publikation!
Franzpeter Messmer