Reimann, Aribert

Lear

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms Classics OC 921, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 10/2009 , Seite 68

Trotz der hohen Anforderungen an Sängerensemble und Orchester hat Aribert Reimanns “Lear” nach der Münchner Uraufführung von 1978 einen Platz im Repertoire von leistungsfähigen und der Musik der Gegenwart aufgeschlossenen Opernhäusern gefunden. Die Literaturoper, deren Libretto Claus H. Henneberg nach der Vorlage der Shakespeare’schen Tragödie schuf, lag aber bislang nur in dem Mitschnitt der Uraufführung aus dem Münchner Nationaltheater vor. Auf dieser von Gerd Albrecht geleiteten Produktion der Deutschen Grammophon dominiert Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle, die Reimann für den legendären Bariton und in Zusammenarbeit mit ihm geschaffen hat. Das weitere Ensemble stand hörbar im Schatten der deklamationsbetonten Interpretation des “König Lear”, was auf diesem Mitschnitt der Uraufführung nachvollziehbar ist.
Der “Lear”-Mitschnitt der Eröffnungsproduktion der Saison 2008/09 der Frankfurter Oper (Regie: Keith Warner) kann sich neben dem Uraufführungsmitschnitt auf jeden Fall behaupten. Bei diesem Auftakt der Zusammenarbeit der Firma Oehms Classics mit der Frankfurter Oper (mit der Hamburger Oper ist das rührige Label schon länger verbunden) werden neue Hör- und Interpretationsperspektiven erschlossen. Denn Reimanns Partitur lässt einen musikalischen Kosmos entstehen, der die ungeheure Gewalt, Grausamkeit, aber auch Melancholie, Liebe und Zärtlichkeit des Lear-Stoffs zum Ausdruck bringt, was auf der Aufnahme beispielhaft zum Klingen gebracht wird.
Dies liegt einerseits an der die expressive Partitur mit ihren gewaltigen dynamischen Ausbrüchen auslotenden Sicht des Dirigenten Sebastian Weigle am Pult des fulminant aufspielenden Frankfurter Museumsorchesters, andererseits an einem Sängerensemble ohne Ausfälle. Trotz der bemerkenswerten Leistung des Baritons Wolfgang Koch in der Titelpartie, der Lears beginnenden Wahnsinn expressiv zu gestalten weiß, jedoch ohne die Figur darauf zu reduzieren, wirkt das Frankfurter Ensemble ausgewogener, werden Lears Gegenspieler schärfer charakterisiert.
Der Countertenor Martin Wölfel kann die Klagetöne Edgars ergreifend gestalten. Jeanne-Michèle Charbonnet singt eine bösartig-gefährliche Goneril, und trotz ihres zu schriller Höhe neigenden Soprans ist Caroline Whisnants eine überzeugende Verkörperung der Regan. Britta Stallmeister singt eine bewegend-ausdrucksreiche Cordelia, die von Lear verstoßene Tochter, die ihn aber als einzige wirklich liebt. Frank van Aken hat für den Edmund die nötige tenorale Durchschlagskraft und ist in der Lage, der Partie die ihr innewohnende Brutalität zu verleihen. Beachtenswert ist auch die Textverständlichkeit, mit der in der Frankfurter Oper gesungen wird. Die Aufnahmetechnik von Oehms Classics hat zudem dafür gesorgt, dass die Stimmen auch gegen die gewaltigen Orchesterausbrüche, die grellen Blechbläserattacken und das brachiale Schlagwerk stets präsent bleiben.
Eine eindrucksvolle Aufnahme, dem Rang des Reimann’schen Werks in jedem Takt angemessen. Auf die weitere Zusammenarbeit des Labels mit der Oper Frankfurt darf man nach diesem “Lear” mehr als gespannt sein.
Walter Schneckenburger