Giacomo Meyerbeer

Le Prophète

John Osborn, Marianne Cornetti, Lynette Tapia, Albrecht Kludszuweit, Pierre Doyen, Essener Philharmoniker, Ltg. Giuliano Carella

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Oehms
erschienen in: das Orchester 06/2018 , Seite 68

Bis in die jüngste Zeit gab es in Aufführungen von Giacomo Meyerbeers großer Oper “Der Prophet” dras­tische Vereinfachungen. Die Aufnahme der Essener Philharmoniker ist die erste nach der neuen Meyerbeer-Ausgabe und folgt der Fassung, die der Komponist für die Proben ab Dezember 1848 abgegeben hatte. Die später gemeinhin als Brandus-Ausgabe bezeichnete Edition der Wiedertäufer-Oper orientierte sich dagegen an der Einrichtung für die Uraufführung am 16. April 1849 in Paris. Über vierzig Minuten fielen schon bis dahin dem Rotstift zum Opfer. Drei gewichtige Gründe gab es dafür: Der Abend sollte trotz ausgedehnter Pausen nicht zu lange dauern; sodann das Kuriosum, dass Gustave Roger, der Uraufführungssänger der Titelrolle, und vor allem dessen Frau die Verkürzung des ihn an die Kraftgrenzen treibenden Parts durchsetzen konnten; und schließlich: Meyerbeer gab die Idee auf, das damals neu erfundene Saxo­fon als Orchesterinstrument in Berthes Auftrittsarie und Reminiszenzen einzusetzen. In Aufführungen kleinerer Bühnen erfolgten weitere Eingriffe.
Mit rund drei Stunden und 35 Minuten liegt die Essener Spieldauer nur um rund 15 Minuten über jener der bisher maßgeblichen CBS-Studioaufnahme von 1976 mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Die hier von Giuliano Carella mit bodenständigen Akzenten ausgestattete „Schlittschuhläufer“-Ballettmusik ist hier bedeutend kürzer als gewohnt. Dafür gelingen die Staffelun­gen des Opernchors (Leitung: Jens Bingert), des Extra- und Kinderchors beim Krönungszug in Münster hervorragend. Insgesamt hört man sehr viel von Meyerbeers strategisch gedachter Raumdramaturgie und koloristischer Vielfalt. Die Einspielung der mit Studierenden der Folkwang-Universität verstärkten Philharmoniker klingt mehr transparent als monumental. Damit zeigt sie eher Meyerbeers Synthese aus bestehenden Klangidiomen der Entstehungszeit als jenen spektakelnden Effektüberschwang, den man ihm nach Richard Wagners Schmähattacken andichtete.
Demzufolge besetzte man die Titelpartie nicht mit einem Spinto- oder Heldentenor, sondern mit John Osborn, der den Jean von Leyden aus der Perspektive des romantischen Belcanto-Tenors angeht. Ein gesangshistorischer Meilenstein ist der Part seiner Mutter Fidès, inspiriert durch die deklamatorischen wie virtuosen Ausnahmequalitäten der Mezzo-Assoluta Pauline Viardot-García. Jeans Verlobte Berthe, die von der gebrochenen Unschuld zur Attentäterin wird, greift als Gesangspart weit über den lyrisch-naiven Rollentypus hinaus. Unter Carellas konturierender Leitung zeigen Marianne Cornetti (Fidès) und Lynette Tapia (Berthe) mehr lyrische Umsicht als dramatische Attacke.
Wichtig ist diese Aufnahme deshalb nicht nur durch die Urfassung, sondern auch durch den Bruch mit dem Image von Meyerbeers Grand-Opéra-Schaffen als ausladender Verdickung historischer Sujet. Der Perspektivenwechsel weg von Wagners Kritik und hin zu Meyerbeer als Vollender der Musiktheater-Entwicklung seit 1789 ist vollzogen.
Roland H. Dippel